: Apokalyptische Kriegsfolgen im Irak
■ Britische Wissenschaftler legen medizinische Bilanz des Golfkrieges vor/ Medikamente und Nahrungsmittel fehlen/ Zivilbevölkerung stirbt weiter/ Infrastruktur zerstört
Berlin (taz) — „Der Golfkrieg hat rein militärisch betrachtet einen Sieg der Vereinten Streitkräfte gebracht, aber bei genauer Untersuchung sieht man, daß der Tribut dieses Sieges ungeheuer groß ist, daß er in Millionen von Flüchtlingen, Hunderttausenden von Toten und Verwundeten, schwerwiegenden Umweltschäden und ökonomischen Schäden von mehr als 100 Milliarden Dollar besteht.“ „Die auf den bisher verfügbaren Informationen beruhende Bestandsaufnahme der medizinischen, der Umwelt- und der ökonomischen Auswirkungen (des Golfkrieges) zeigt, daß die Schäden in erheblichem Maße jeden möglichen Nutzen überschreiten.“
Diese kritische Bilanz ziehen die beiden Londoner Wissenschaftler Prof. Andy Haines und Dr. Ian Lee in einem Beitrag im angesehenen 'British Medical Journal‘. Sie haben die bis zum Frühsommer 1991 vorliegenden Daten zum Golfkrieg aus den verschiedensten Quellen (von Erklärungen der US-Administration über UN-Reports bis hin zu Greenpeace- Berichten) gesichtet und versucht, die Folgen des Krieges für Gesundheit und Wohlergehen der betroffenen Menschen abzuschätzen. Dabei wird deutlich, daß die Auswirkungen des Krieges, Leid, Elend und Sterben, bis heute anhalten.
Die Toten
Während die alliierten Kräfte in den Wochen des Krieges 343 Tote zählten und durch die Scud-Rakaten in Israel vermutlich 13 Menschen starben, werden die Verluste der irakischen Armee von den Autoren auf 100- bis 120.000 Mann geschätzt. Viele dieser irakischen Soldaten, die in der ersten und zweiten Operationslinie fielen, sind Kurden und Schiiten gewesen, die von Saddam Hussein zwangsrekrutiert worden waren. 5- bis 15.000 Zivilisten starben während des Krieges, 4- bis 6.000 in den Monaten danach bis Anfang Mai. 20.000 irakische Zivilisten wurden im anschließenden Bürgerkrieg getötet. Die Zahl der Opfer unter den vorwiegend kurdischen Flüchtlingen wird mit 15- bis 30.000 angegeben, darunter waren zwei Drittel Kinder unter fünf Jahren, die vorwiegend an Durchfällen, Dehydration und Unterernährung starben. Zu den Opfern zählen auch mindestens 600 Kuwaitis, die von den irakischen Besatzern getötet wurden. Insgesamt starben bis zum Mai 1991 als Folge des Golfkriegs 150- bis 200.000 Menschen.
Während die Zahl der Opfer nur grob abgeschätzt werden kann, gibt es um so genauere Daten über die Bombardements. Bei täglich mehr als 1.000 Einsätzen fielen bei den Angriffen der Kampfbomber fast doppelt so viele Bomben (63.000 Tonnen in einem Monat) wie im vergleichbaren Zeitraum in Vietnam (34.000). Durch die Luftangriffe wurden nicht weniger als 9.000 Häuser vollständig zerstört. Der irakische Halbmond schätzt, daß durch die Bomben während des Krieges 6- bis 7.000 Zivilisten starben.
Die zerstörte Infrastruktur
Der Bombenhagel war so effektiv, daß unmittelbar nach dem Krieg nur noch vier Prozent der Kraftwerk-Kapazität zur Verfügung standen. Selbst im Mai war nur jedes fünfte Kraftwerk einsatzfähig, Reparaturen wurden durch die internationalen Blockaden verhindert. Neben der Elektrizitätsversorgung wurde auch die Abfall- und Müllentsorgung sowie die Wasserversorgung weitgehend unterbrochen mit bis heute anhaltenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung. Dazu zitieren die Autoren den UN-Report von Ahtisaari: Der Krieg hat „beinahe apokalyptische Folgen für die ökonomische Infrastruktor gezeitigt, die bis zum Januar 1991 in einer ziemlich hoch urbanisierten, technisierten Gesellschaft existierte. Nun sind die wichtigsten Hilfsmittel des modernen Lebens zerstört oder schwer beschädigt. Der Irak ist für einige Zeit ins vorindustrielle Zeitalter verbannt, und dies mit allen Behinderungen, die eine Abhängigkeit von Energie und moderner Technologie im Industriezeitalter mit sich bringt.“
Bis Ende 1990 besaß der Irak ein Netzwerk von 131 Hospitälern und 851 Gesundheitszentren. Dieses System erreichte 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung. Jetzt sind viele Einrichtungen schwer beschädigt. In der nordirakischen Stadt Arbil waren selbst zwei Monate nach dem Krieg nur fünf von 42 Gesundheitszentren funktionsfähig, in Sulaymaniyah nur sechs von 20, in Basra fünf von 19. Die wenigen Häuser, die noch in Betrieb sind, müssen einen riesigen Ansturm an Patienten bewältigen. Das Al-Batein-Gesundheitszentrum in Basra, das normalerweise der Versorgung von 40.000 Personen dient, ist jetzt für 150.000 Menschen die medizinische Anlaufstation. Den Einrichtungen fehlt es an sauberem Wasser, Elektrizität und einer geregelten Abfallbeseitigung. Einer Harvard-Studie zufolge verfügen weniger als ein Drittel aller Hospitäler über eine angemessene sanitäre Versorgung. Außerdem fehlen Arzneimittel, Spritzen, Bandagen, Säuglingsnahrung und Infusionen. Hitzeempfindliche Arzneien und Impfstoffe sind wegen der Stromausfälle nicht mehr vorhanden. Vor dem Krieg hat der Irak jährlich Arznei und medizinische Hilfsmittel im Werte von 500 Millionen Dollar eingeführt. Zwischen August 90 und April 91 kam davon nur ein Dreißigstel ins Land.
Die desolate Versorgungslage
Abfälle werden in großem Umfang in die Flüsse gekippt. In Bagdad waren schon in der ersten Woche des Krieges beide Abfallverbrennungsanlagen ausgefallen. Eine wurde später vollständig zerstört. Die beträchtlichen Mengen an Müll, die jetzt in den Tigris gekippt werden, verseuchen das Trinkwasser für den Südirak. Auch die Müllabfuhr arbeitet eingeschränkt, da wegen Benzinmangels nur noch wenige Lastwagen fahren.
Typhus und Cholera haben sich in vielen Regionen ausgebreitet. Auch Kinderlähmung, Meningitis und Hepatitis kommen jetzt häufiger vor. Nach einer Harvard-Untersuchung hat sich die Kindersterblichkeit verdoppelt, wobei erwartet wird, daß im nächsten Jahr im Irak nochmals 80- bis 200.000 Kinder sterben, wenn sich die Lage nicht bessert. Schwere Unterernährung ist bei Kindern ein normaler Befund.
Völlig unkalkulierbar sind die psychologischen Folgen für irakische Kinder, die den Krieg miterlebten. Ein Forschungsteam der Harvarduniversität stellte bei Interviews mit Kindern in Bagdad und Basra „tiefe Depressionen, Traurigkeit, Müdigkeit und Freudlosigkeit“ fest. Die traumatisierten Kriegsopfer erinnerten die Forscher an die Beschreibungen der „lebendigen Toten“ nach dem Atombombardement in Hiroschima.
Der Mangel an Arzneimitteln trifft neben den Kleinsten vor allem die chronisch Kranken, wie Diabetiker, Epileptiker, Schilddrüsenkranke oder Bluthochdruck-Patienten. Auch wenn die irakische Bevölkerung im Durchschnitt sehr jung ist, so leiden doch Hunderttausende an den fehlenden Arzneimitteln. Nach einer Liste, die in Stockholm der Ärzteorganisation IPPNW vorgelegt wurde, fehlten im Frühsommer unter anderem Insulin, Mittel zur örtlichen Betäubung und Zellgifte für Chemotherapien vollständig auf dem irakischen Markt.
Der Irak ist von Nahrungsmittel- Importen abhängig und hat bislang mehr als 70 Prozent seiner Lebensmittel eingeführt. Durch Krieg und Sanktionen sind diese Importe ausgefallen. Zwischen August 1990 und April 1991 konnte nicht einmal die für eine einzige Tagesversorgung notwendige Menge an Nahrungsmitteln beschafft werden. In diesem Winter werden die letzten Vorräte zu Ende gehen. Aber wie sollen Nahrungsmittel und medizinische Güter eingeführt werden angesichts noch immer bestehender Handelsbeschränkungen und finanzieller Sanktionen? Der Ahtisaari-Report warnt vor einer großen Hungersnot. Die Lage wird auch dadurch dramatisch, daß die eigene Agrarproduktion im Irak wegen des Krieges, des Stromausfalls bei den Bewässerungspumpen und des fehlendes Düngers stark gelitten hat.
So treffen denn die Auswirkungen des Krieges — so das Fazit der beiden Wissenschaftler — in erster Linie diejenigen, die für die Taten Saddam Husseins nicht verantwortlich sind. Vor allem die Zivilbevölkerung, die Kurden und Schiiten, die schon in der Vergangenheit Opfer von Saddams Politik waren, sind die Verlierer des Krieges. Und die Kinder und chronisch Kranken, die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft. Manfred Kriener
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