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Das Offenstehen von Schränken

„Die Zeit und das Zimmer“ in Chéreaus Pariser Inszenierung  ■ Von Thierry Chervel

Botho Strauss ist schließlich ein Berliner Schriftsteller. Auch wenn an einer Stelle im Stück von einem „Kastell“ die Rede ist, das einen „herrlichen Blick über die Stadt“ biete und das es in Berlin nicht gibt — es fällt schwer, sich einen anderen Ort der Handlung für Die Zeit und das Zimmer vorzustellen.

Schon das Straßenbild, das Julius, im Sessel am Fenster des Zimmers sitzend, eingangs beschreibt, ist berlinisch: „Die Weihnachtsbäume liegen im Februar noch am Straßenrand. Eislachen bedecken den Streusand wie ölige Plastikfolien. Unter dem geschmolzenen Schnee kommen die abgebrannten Knallkörper von Sylvester zum Vorschein. Und der Hundekot vom vergangenen Jahr.“

Vor allem die Vertrauensseligkeit der Figuren im Stück, das hochengagierte Wichtignehmen der eigenen Person, das ungefragte Reden von sich und Thematisieren von Beziehung, selbst wenn man sich noch gar nicht kennt — diese Muße, dieses vergebliche Kreisen um die eigene Existenz erinnern an ein inzwischen versunkenes Berlin, in dem Zeit und Zimmer noch billig zu haben waren, an jene faule Halbstadt, die sich schlicht „Berlin“ nannte, weil sie längst vergessen hatte, daß sie es nicht ganz war, und die nicht im entferntesten ahnte, was ihr unmittelbar bevorstand. Strauss hat das Stück 1988 geschrieben.

Das Zimmer war allerdings schon 1988 nicht mehr ganz dicht. Gleich die erste Frau, über die Julius von seinem Fensterplatz mit genüßlichem Voyeurismus herzieht — „schon im Gehen hat sie etwas Hingefläztes, Faules, Illustriertenblätterndes, Lockenwicklerhaftes, Bildschirmbleiches“ — stürmt seine Wohnung. Der Türbrummer brummt. „Was erzählen Sie da“, protestiert Marie Steuber, „Sie sehen mich hier von Ihrem Fenster aus zum ersten Mal und fällen gleich ein abschätziges Urteil über mich.“ Worauf sie ohne Zögern ihre Geschichte erzählt.

Folgen der Mann ohne Uhr (Marc Betton), ein hypernervöser, über seine Lesebrille lugender Unternehmertyp, die Ungeduldige (Bulle Ogier), die Schlaffrau (Laurence Côte), der Mann im Wintermantel (Jean-Pierre Moulin), der völlig Unbekannte (Marc Citti). Ein Taubenschlag: lauter Leute, die sich irgendwie kennen, oder glauben, sich zu kennen, oder meinen, daß sie sich kennenlernen sollten.

In Richard Peduzzis Bühnenbild sieht das Zimmer aus wie der Innenraum einer großen Zwanziger-Jahre- Villa, sehr hoch, sehr eckig, auch wenn der fast quadratische Grundriß perspektivisch ein bißchen verzerrt ist. Links drei Fenster, rechts die Wohnungstür, an der Stirnseite zwei weitere Türen, die — je nach Bedarf — zu Wandschränken oder anderen Zimmern führen. Etwas rechts von der Mitte, im Vordergrund, steht eine große, runde, rotgranitene Säule. Schon in der ersten Hälfte des Stücks, wo alle Personen versammelt sind, ist das Zimmer nicht mehr das Refugium, das es zu sein verspricht, kein warmgefüttertes Etui der Privatheit, sondern ein zugiger Ort, Bahnhofshalle, porös. In der zweiten Hälfte, die sich in sketchartigen Szenen auf zwei oder drei Mitspieler konzentriert, wird es zum Mehrzweckbehältnis: Büro, Durchgang, Wohnzimmer, ohne daß viel umgebaut wird. Ein paar Requisiten werden verschoben, ein paar Lichter gesetzt. Auf die Architektur ist kein Verlaß.

Marie Steuber wird von Anouk Grinberg gespielt, eine zarte Erscheinung, Star der Saison in Paris. Sie steht und geht leicht nach hinten gebeugt wie auf einer schiefen Fläche. Die auffällig plazierte Säule lädt sie förmlich ein, sich an sie zu lehnen, aber der Halt ist trügerisch. Die Säule fängt an zu sprechen — mit der Stimme von Jeanne Moreau: „Ich die Säule der Pfahl.“ „Sprich nicht!“, ruft Marie, „du bist meine Zuflucht.“ Berlin ahnte es noch nicht — so liest sich das Stück heute —, aber schon 1988 war die „Dingruhe“ dahin, die Wände wurden durchlässig, die Türen hielten nicht mehr dicht, aus mit der Geborgenheit.

Darum wirkt Chéreaus Inszenierung bei all ihrem Witz, ihrer Virtuosität und ihrem Tempo in Paris ein bißchen deplaziert. Sicher, Chéreau hält sich genau an Strauss' Vorschriften, die keinen Ort der Handlung benennen, aber Zeit und Zimmer standen in Paris nie zur Verfügung wie im einstigen Berlin. Muße und Raum waren in Paris immer sozial konnotiert, eine Sache der Reichen.

„Ich habe die Schranktür offengelassen“, bekennt Olaf, Julius' Mitbewohner in der ersten Szene mit großem Pathos. Bis dahin hatte er mit eingezogenen Knien in seinem Sessel gesessen. Nun hält er einen langen Monolog über sich, auch wenn ihn keiner gefragt hat. Pascal Greggory ist ein grandioser Schauspieler. Er steigt auf den Sessel, ballt die Faust, wirft sich in die Brust, legt eine de Gaullesche Erhabenheit in seine Worte: „Das Offenstehen von Schränken breitet zuweilen schon seine schwarzen Flügel aus.“ Aber Olafs Angst, daß eine vermeintlich ordentlich sedimentierte und abgelegte Geschichte sich als neu-alte Unordnung ausbreiten könnte, erscheint in Paris nur als eine private Marotte, nicht „realistisch“, nicht „historisch“. Ein nach Paris versetzter Berliner hört in Olafs Rede nicht das Pathos de Gaulles, sondern das Ernst Reuters: Schaut auf diese Stadt.

Botho Strauss: Le temps et la chambre , Regie: Patrice Chéreau, Bühne: Richard Peduzzi, ThéÛtre de l'Odéon, Paris, täglich außer montags bis zum 14. Dezember.

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