piwik no script img

Der Kälte-Mann

Dem absoluten Glückstreffer droht der Zerfall. 4.000 Jahre überstand der Leichnam am Rande des Similaun-Gletschers. Nun haben ein paar Tage in der Gerichtsmedizin ausgereicht, um den Jahrhundertfund vom 19.September elementar zu gefährden. Wenn die Innsbrucker Gerichtsmedizin die Mumie nicht bald Spezialisten überlasse, könnten „irreversible Schäden“ die Folgen sein, befürchtet Eike- Meinrad Winkler, Biologie-Professor aus Wien. Zum (Zer-)Fall des Gletschermanns wurde vor drei Wochen eine Kommission in Tirol gebildet. Doch Winkler, der seine Innsbrucker Kollegen allesamt für Dilettanten hält, wurde nicht einberufen. Dabei bedurfte es nicht erst der Schelte eines Akademikers. Ein Blick auf den Bildschirm hätte genügt, um zu erkennen, was Winkler meint: Wo sonst mit feinen Pinseln und Spachteln hantiert wird, ging die Bergwacht erst am 23.September mit Skistock und Spitzhacke zu Werke, und kein Archäologe weit und breit. Nach der verunglückten Bergung folgte die nächste Panne: Der Ur-Tiroler aus der Bronzezeit wurde nach Innsbruck geflogen, sollte dort im Gerichtsmedizinischen Institut der Universität aufgetaut werden. Für die Presse wurde der aufgeweichte Leichnam auf dem Obduktionstisch aufgebahrt. Als Folge der Erwärmung von sechs Grad unter Null auf Zimmertemperatur breiteten sich die ersten Schimmelpilze auf der Leiche aus. „Friert ihn bloß wieder ein!“ flehte Winkler, der sich ungefragt zu Wort gemeldet hatte. Erst „zwei oder drei“ Tage nach seinen Bemühungen kam der Leichnam in die Kühlzelle. Auch der Mainzer Prähistoriker Markus Egg eilte noch in der gleichen Woche zum Tatort, „um Erste Hilfe zu leisten“. Zusammen mit einer Kollegin versorgte er die neben dem Mann gefundenen Werkzeuge. Bei seinem zweiten Besuch brachte Egg die Kleidung und die archäologischen Fundstücke gleich in Sicherheit — nach Mainz ins römisch-germanische Zentralmuseum. Der Leichnam blieb bei sechs Grad unter Null im Innsbrucker Institut. Hier soll er eingehend untersucht werden. Phänomenale Erkenntnisse erhoffen sich die Innsbrucker noch immer. Ganz im Gegensatz zu Winkler: „Ich will nicht ausschließen, daß noch irgendwo eine intakte Zelle zu finden ist. Doch Auftauen und anschließendes Wiedereinfrieren führt zu einer Zerstörung der Zellmembran und somit der Zellen, weil sich Eiskristalle bilden.“ Der Biologe hält es für äußerst unwahrscheinlich, daß sich noch Enzyme und Blutgruppen bestimmen lassen. Bakterien der Magen- und Darminhalte seien möglicherweise zerfallen. Daß sich das Erbgut des Ur-Tirolers noch bestimmen läßt, will er theoretisch nicht ausschließen, doch praktisch stelle sich bei dem Befund die Frage, „um wessen DNS es sich handelt: um die des Mannes, oder die der angesiedelten Bakterien und Schimmelpilze?“ So lange die Gerichtsmedizin nicht bereit ist, den Leichnam bei mindestens zehn Gard minus einzufrieren, geht der Zerfallsprozeß der Leiche, wenn auch verlangsamt, weiter. Claudia Hiller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen