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Drahtseilakt

■ Jelzin versucht zugleich Wirtschaftsreform und Zusammenhalt der Föderation - ohne Netz

Drahtseilakt Jelzin versucht zugleich Wirtschaftsreform und Zusammenhalt der Föderation — ohne Netz

Mit seinem schonungslosen Reformvorhaben und dem Bekenntnis zu einem bürgerlichen Rechtsstaat hat Rußlands Präsident noch in allerletzter Minute reagiert. Die Russische Föderation (RSFSR) soll eine neue Verfassung erhalten. So will es ihr Präsident Boris Jelzin und die Mehrheit der russischen Legislative. Schon sah es so aus, als würde sich der Haudegen endgültig aus der Politik verabschieden. Seine heutigen Gegner sind ihm nicht vertraut, und das Terrain, auf dem es nun zu kämpfen gilt, kennt er auch noch nicht.

Das Bekenntnis zu einem demokratischen Rußland, das sich in seiner neuen Verfassung gegen jede Form totalitärer Herrschaft aussprechen und die Freiheit des Individuums zum höchsten Verfassungsgut erheben will, ist aus unserer Sicht eine konsequente Fortsetzung der Politik der russischen demokratischen Opposition. Doch ist es vielmehr eine Absage an den alten russischen Hang zu verklärter Kollektivität, in der das Individuum nur als nominelle Teilmenge auftauchte.

Dem Bewußtsein des Volkes eilt dieser Schritt voraus. Daher hat Jelzins Appell gleichsam etwas Beschwörendes. Die Reformen werden dem Volk diesmal noch mehr abverlangen. Und Jelzins Heiligenschein zeigt Schattenränder. Ein Rückfall in den bürokratischen Sowjetkollektivismus scheint zwar gebannt, dahinter könnten sich aber andere Kräfte auftun. Etwa jene, die sich im Verein mit vaterländischen Schriftstellern, Nationalbolschewisten und gestrauchelten Großraumpolitikern „russischer Einmaligkeit“ besinnen. Selbst das demokratische Lager ist nicht frei von solchen Anflügen. Die Breitseiten der ehemaligen Unionsrepubliken gegen Rußland verdichten diesen mystischen Nebel täglich. Einen angeschlagenen Bären sollte man aber nicht weiter reizen.

„Auge um Auge“ vermindert das Sehvermögen. Wenn Jelzin daher erklärt, die Neuschaffung der Föderation solle auf einem gleichberechtigten Länderprinzip beruhen, ist dieser Vorschlag schon aus einer Notlage geboren. Die RSFSR steht heute vor dem gleichen Problem wie kürzlich noch die Union. Sie droht zu verfallen, denn auch sie ist ein Vielvölkerstaat. Die Tataren, Tschetschenen und Inguscheten wollen nicht mehr, andere werden nachziehen. Nur sind sie allesamt von russischer „Muttererde“ umgeben. Sie mit friedlichen Mitteln bei der Stange zu halten wird schwierig sein. Das russische „Vermittlungsangebot“ kommt spät.

Die Föderation zusammenzuhalten und gleichzeitig eine Wirtschaftsreform zu lancieren, die die breite Masse zum Darben verpflichtet, ist erneut ein Drahtseilakt und — wie sollte es in Rußland anders sein? — selbstverständlich ohne Netz. Der Verfassungsentwurf, der erst im Frühjahr verabschiedet werden soll, kann dann schon wieder ein „Archivposten“ sein. Doch Jelzin muß aufs Seil steigen, andere Alternativen hat er nicht mehr. Kommt er unbeschadet an, wäre aus der Pflicht die Kür geworden. Klaus-Helge Donath, Moskau

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