SEILTÄNZERIN: Statt eines Kommentars
■ Warum wir nur das eine Thema im Kopf haben
Ich mag die Berliner Luft. Elf Jahre lang bedeutete sie für mich mehr Leben, mehr Impulse, mehr Lässigkeit... und mehr Toleranz Fremden gegenüber, im Vergleich zu anderen Orten dieses Landes. Ich lebe in ihr, aber ich gehöre nicht zu ihr. Ich fühle mich wie eine Seiltänzerin über einem tiefen Tal. Ich stehe zwischen zwei Riesenbergen, der eine ist die deutsche Kultur, der andere die chinesische. Von dem einen bin ich abgerutscht und kann nicht mehr ganz zurück, auf den anderen kann ich nicht hinauf.
Doch schleichend wurde diese Lebensluft bedrückender. Offene Gewalt und Aggression schweben in der Luft. Ich zog mich immer mehr zurück. Ich wage nicht aufzufallen. Erscheint mir jemand unheimlich, renne ich gleich weg. Gibt es keine Fluchtmöglichkeit, wie im U-Bahn-Waggon, bin ich bis in die Zehenspitzen angespannt. Ich fühle mich als Ziel. Deshalb demonstrierte ich am 3. Oktober 91, am deutschen Einheitstag, um ein wenig von der angestauten Wut und den Ohnmachtgefühlen loszuwerden. Aus dem gleichen Grund arbeite ich nun an dieser taz-Ausgabe mit. »taz der Welt«, eine tolle Idee. Vielleicht setzen wir damit ein Zeichen. Anfangs dachte ich, wir sollten uns nicht nur auf das Thema Ausländerfeindlichkeit beschränken. Schließlich sollte eine Tageszeitung ihren Lesern ein breites Themenspektrum »servieren«. Doch ich stellte fest, daß wir alle momentan das gleiche fühlen und nicht in der Lage sind, uns mit anderen Themen auseinanderzusetzen. So bringt diese einmalige Gelegenheit eine einmalige Ausgabe, in vielerlei Hinsicht. Yan Shi
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