: Ein Zeuge verschwindet
Vor eine Woche starb der Sänger und Schauspieler Ivo Livi alias Yves Montand:Er täuschte sich nicht nur manchmal, er sagte es auch ■ Von Mark Kravetz
Yves Montand hat einmal gesagt, er möge keine Beerdigungen; weder die Zeremonien noch die Friedhöfe. Er meinte außerdem, indem er Romain Gary mit einem Dialog aus einem seiner Filme zitierte: „Man muß das Unglück entweihen.“ Man müßte wahrscheinlich bis zu Victor Hugo oder, uns näher, bis zu Jean-Paul Sartre — der darüber ebenso dachte — zurückgehen, um diese Weihen post mortem auszugleichen. Denn schon vor seiner letzten Reise ist er in die Einmütigkeit der Elogen gehüllt zu Grabe getragen worden.
Es fehlt dabei nichts und niemand; nicht Marchais, der — halbwegs — über die Beleidigungen einer immer noch brenzligen Vergangenheit hinweggeht, auch nicht Giscard d'Estaing, der über die Eindringlichkeit der Huldigung vernachlässigte, daß, wenn „das Recht des Blutes“ — ihm zufolge die Grundlage der französischen Staatsbürgerschaft — gesetzeskräftig wäre, Yves Montand bloß Ivo Livi hieße: ein immigrierter Sänger und Eindringling wie andere auch.
Alles ist gesagt und wird bis zum Überdruß wiederholt sein, um den Sänger zu feiern, den Schauspieler, den lauten Sprecher, Störer und scharfen Kritiker. Alles ist gesagt, obwohl es das Wesentliche nicht erschöpfend behandelt, das allgemeine Gefühl, einen geschätzten Mann verloren zu haben, diese immense Traurigkeit, übermäßig vielleicht, aber nicht weniger wahr, zu einer Zeit, die in dem Moment zu Ende geht, in dem eine der Stimmen, die sie verkörpert hat, erlöscht.
Die Einmütigkeit nährt den Verdacht. Man behält nur die offiziellen Worte, verworren und harmonisierend. Dennoch bleibt klar: wenn Yves Montand so berühmt ist, dann auch, weil mit ihm ein großer Zeuge des Jahrhunderts verschwindet. Des halben Jahrhunderts, um genau zu sein, aber für die Geschichte wird es die Wahrheit unseres ganzen Jahrhunderts beinhalten; eine Zeit, die mit Auschwitz beginnt und mit der Auflösung des kommunistischen Blocks zu Ende geht, die sich auch im politischen Weg Yves Montands abzeichnet, vom Antifaschismus zum Kommunismus und zur Ablehnung des Totalitarismus auf beiden Seiten — in seiner ihm eigenen Wahrheit.
An der Heftigkeit der Worte, mit denen Montand gut dreißig Jahre später seine Vergangenheit als Livi abgelegt hat, könnte man — und unsere Stalinisten ließen sich das nicht nehmen — die umumgängliche Korruption durch Erfolg und Geld erkennen. Von einem Lager ins andere wechselnd, habe der Sänger schließlich nur den königlichen Weg des sicheren Ruhms gewählt. Dieser Vorwurf ist jedoch ebenso absurd wie die „ewigen“ und noch universelleren Erfolge von Montand aus der Zeit des „Kumpels von der Straße“. Wer sich an die 50er Jahre erinnern kann...
„Ich habe keine Millionen, ich bin Dreher bei Citroen.“ Beim Aussteigen aus dem Auto stößt man auf eine Schlange vor dem ThéÛtre de l'Etoile. Es ist die Zeit der blauen Träume von der roten Banlieue, der Gruppentickets, die vom Komitee des Unternehmens gekauft wurden. Man trällert Grands Boulevards vor sich hin, vertreibt sich die Zeit. Das Publikum von morgen kann C'est à l'aube und Le doux caboulot bereits auswendig. Die Kinder, die sich lieben, singen Les feuilles mortes, die mutigen Liebespaare wagen Sanguine, die Antimilitaristen trösten sich mit Barbara oder Quand un soldat, die hübschen Mädchen, die ihre Dessous auf der Schaukel zeigen, sehen niemand anderem ähnlich... Montand ist Teil dieser Landschaft, dieses Lebens, wie man es schöner wollte. Man liest sich nicht die Slogans eines Flugblatts vor, sondern rezitiert Apollinaire, Carco, Prévert, man pfeift keine Hymnen, sondern Kosma, Crolla, Lemarque. Montand ist nicht der Sänger des Proletariats, sondern der singende Prolo.
Zwanzig, vierzig Jahre konnten vergehen, und es sind immer noch dieselben Lieder, die man hört, einige andere sind hinzugekommen. Auch wenn Montand irgendwann seinen frühen Klassiker C'est à l'aube, vermeiden wird, der ihm zu sehr vom sozialistischen Realismus der schlimmen Epoche geprägt scheint, nimmt er ihn bald wieder auf, denn das Morgengrauen (l'aube) ist für alle verhängnisvoll, egal, wer die Henker sind; nie hat er ein Chanson verleugnet, und sein Publikum ebensowenig, bei zwei bis drei Generationen Abstand. Auch keinen Film, selbst wenn er schlecht war — denn solche hat es gegeben.
Was soll man über sein Engagement sagen? Dasselbe. Ein Gedicht von Prévert, obligatorisch bei den letzten Konzerten, könnte den Weg beschreiben: „Embauché malgré moi dans l'usine à idées / j'ai refusé de pointer / Mobilisé de même dans l'armée des idées / j'ai déserté.“ (Gegen meinen Willen in der Ideenfabrik angestellt / habe ich mich geweigert, zu zielen. / Zur ideellen Armee einberufen / bin ich desertiert.) Man kennt die Geschichte, die berühmte Reise Moskau — Warschau — Prag — Budapest infolge des Chruschtschow-Berichts und der sowjetischen Repression beim Ungarnaufstand, der aufkeimende Zweifel, der Anfang vom Ende der Kameradschaft vor dem endgültigen Bruch zehn Jahre später. Der Mann sagt schließlich: „Ich höre nicht auf zu hoffen, ich glaube nicht mehr.“
Aber im Unterschied beispielsweise zu Roger Vailland, der, um seine gewaltige Blindheit zu vergessen, das Desinteresse wählte, nahm Montand den umgekehrten Weg: den des öffentlichen und manchmal donnernden Engagements, auf die Gefahr hin, daß aus seiner schönen Stimme eine große Schnauze wird. Als Sänger feiert er Erfolge in Tokio, Rio und an der renommierten Metropolitan in New York; als Schauspieler in Z und Das Geständnis, ist er international der bekannteste französische Künstler — das eine ist dem anderen dienlich. Bald findet man ihn überall, mit Bernard Kouchner und André Glucksmann beim Hilferuf für die Boat people, mit Elie Wiesel für die Freiheit der sowjetischen Juden, an der Seite der sowjetischen und östlichen Dissidenten, von Leonid Pljuchtsch und Václav Havel. Nicht zu vergessen seine Unterstützung von Solidarność und Walesa, als er noch der Mann von Danzig war. Er entscheidet sich, in Die Hexen von Salem zu spielen, als der amerikanische McCarthyismus voll im Gange ist, und genauso weigert er sich, im Fernsehen oder Radio aufzutreten, solange nur ein einziger Unterzeichner des „Manifestes der 121“ (Unterstützung der Aufrührer und Deserteure des Algerienkrieges) dort Auftrittsverbot hat. 1968, im französischen Mai, war er schweigsam, weil er „der Jugend nicht hinterherrennen“ wollte, aber gemeinsam mit Simone Signoret erhebt er seine Stimme, als der damalige Innenminister Raymond Marcellin die unerwünschten Ausländer aus Frankreich vertreiben will. „Wir würden uns schämen, Franzosen zu sein, wenn wir nicht protestieren würden“, sagten die beiden Stars, die als Ivo Livi und Simone Kaminker geboren wurden.
Es ist wahr: in der Vermischung der Genres und den medienwirksamen Ausbrüchen Montands entsteht das „Phänomen Montand“; Umfragen machen ihn „präsidentenfähig“. Auch wenn der Mann in diesem Punkt nicht nachgibt, kriegt er doch manchmal einen Rappel, tut seine Meinung kund, zu Inflation, Arbeitslosigkeit, Krieg, Frieden, gesteht dann über den Umweg eines x-ten Interviews: „Ich bin auch schwach, genauso wehrlos wie jeder anderer Bewohner dieses Planeten auch.“ In der Tat, alles ist gesagt.
Die Übertreibung und die Demut, der Wille, laut zu sprechen, und die Angst, eine weitere Dummheit ausgelassen zu haben. Wahr ist auch, daß Yves Montand kein typischer „politischer“ ist: Der Mann täuscht sich nicht nur manchmal, er sagt es auch. Das macht ihn uns teuer und nahe. Daß jeder sich darin wiedererkennen kann, selbst wenn man die Geschichte oder den Schmerz seinem Alter zuschreibt. Nein, Montand hinterläßt nicht Frankreich als Waise, das einzige Waisenkind ist ein dreijähriger Junge. Ein Zeuge verschwindet, unersetzbar. Ein Freund, ein großer Bruder für manche, auch für manche unter uns. Das Denkmal, das man ihm verspricht, ist ein Preis der Zeit. Es gibt nichts zu bereuen. Nicht einmal die Schmach, einen Mann zu beweinen, der uns hat lieben lassen, ein Mann, den man geliebt hat.
Copyright: 'Libération‘ vom 11. November
Aus dem Französischen von Sabine Seifert
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