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Fleisch gegen Grütze

■ Helke Sanders neue Erzählung „Oh Lucy“

Der erste Mensch war eine Frau! Nicht etwa Eva, nein: Lucy, von Anthropologen aus Knochenfunden in Form gebracht, knapp einen Meter groß und drei Millionen Jahre alt. Helke Sander, die Westberliner Regisseurin und Professorin an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste, hat sie für ihre neue Erzählung Oh Lucy nun literarisch entdeckt — als Gesprächspartnerin, mit der sich über die Entstehung der herrschenden Geschlechterbeziehungen nachdenken läßt.

In den Geschichten der drei Damen K., mit denen Helke Sander 1987 ihr viel gelobtes literarisches Debüt gegeben hatte, hatten sich drei alleingelassene intellektuelle Frauen, ganz wie es die klassische Novellistik seit Boccaccio will, zur Ablenkung und Bannung ihrer Sorgen gegenseitig Geschichten erzählt: Begebenheiten aus dem Alltag der Geschlechter, die mit bösem, aber gerechtem Witz auch noch die subtilste Form von Männermacht und Männerstumpfsinn entlarvten. In Oh Lucy nimmt Helke Sander diese Fährte wieder auf — diesmal jedoch, um sie in einer einzigen langen Erzählung bis zu den prähistorischen Quellen zurückzuverfolgen.

Protagonistin der Erzählung ist Hanna, eine beinahe 50jährige Chefsekretärin. Hanna hat Urlaub und das erste Mal seit dreißig Jahren Zeit, um wirklich nachzudenken. Zu ihrer fiktiven Gesprächspartnerin hat sie sich Lucy auserkoren, die sie im Museum für Frühgeschichte kennenlernte: Es war Liebe auf den ersten Blick. Während Herr Kaiser, ihr dritter Ehemann, in ihrem Urlaubsdomizil in der Bretagne fleißig an einem Vortrag büffelt, nützt sie die Zeit, um mit Lucy zu klären, wie sie zu Herrn Kaiser kam und wie die Frau zum Manne überhaupt.

„Lucy gilt als primitiv“, heißt es im Buch, „aber für Hanna scheint sie etwas zu haben, was Hanna nicht mehr hat und anfängt zu vermissen.“ Darf man Lucy glauben, so lebte sie noch fast im Paradies: in selbstversorgender Gemeinschaft mit friedlichen Frauen, abwechselnder Kinderbetreuung (Lucy startete das erste Kita-Projekt im Urwald) und wechselnden Männern. Letztere dagegen waren herumlungernde Einzelgänger — bis einer von ihnen eines Jahrtausends die Jagd entdeckte und das Übel seinen Lauf nahm: Von nun an wird Fleisch gegen Grütze (die bisherige Hauptspeise der Frauen) getauscht, und bald tauscht dieselbe Frau immer mit demselben Mann: Die Ehe entsteht. „Oh Lucy“, entsetzt sich Hanna im typisch drastischen Ton der Erzählung, „das war der Anfang vom Ende, es war unser Abschied aus der Weltgeschichte, als Du Deine Grütze und Deine Möse dem gleichen Mann angeboten hast.“

Verglichen mit Lucys früher Autonomie erscheint Hannas eigene, von Männern vielfach abhängige Existenz am Ende unseres Jahrhunderts mehr als rückständig. Als alleinerziehende Mutter von drei Kindern kennt sie alle Härten und die „Selbstbeschränkung als Lebensregel“. Ihre Idee einer neuen Zeitrechnung und historischen Selbstbestimmung ante und post Lucy ist sicherlich ein origineller Versuch, männlichen Kopfgeburten eine weibliche entgegenzusetzen. Aber ist sie auch plausibel? Eine überzeugende Erklärungshilfe?

Was für Hanna ohne Belang ist — die Frage nach der historischen Wahrheit ihres Konstrukts — wird für die Leserin zum „Knackpunkt“ der Erzählung. Man vermag nicht einzusehen, wie die Geschichte von Lucy, Hannas Schwester aus der Vorzeit, Licht ins heutige Dunkel der Geschlechterbeziehungen bringen soll. Nicht zufällig scheint zwischen scharfsichtigen Beobachtungen und witzigen Kommentaren immer wieder ein schablonenhaft platter Feminismus durch. Daß Frauen „automatisch, strukturell auf der besseren Seite und schuldlos“ sind, geht zwar auch Hanna gegen den Strich, doch in ihrem Kopf gibt es genau genommen nur friedfertige Frauen und unterdrückende Männer — Herr Kaiser, der Ausnahmemann, bestätigt diese Regel allenfalls. Vor dem Altar der Männeranbetung verwünscht sie alle Chauvis, Frauenverächter und Schwächlinge nach dem Motto: Opferlamm sucht Märchenprinz, der zu Frau nie mehr böse ist.

Aber nicht nur Hanna, auch die Autorin scheint sich um die aktuellen Theorien der Frauenforschung wenig zu kümmern. Helke Sander hat ihrer neuen Heldin keinen Blick für die eigene Verstrickung in die Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse mitgegeben (wie sie etwa von Helga Schubert oder Karin Windaus- Walser in jüngerer Zeit hervorgehoben wurde). Die drei Damen K. aus Sanders erstem Band waren Hanna da bereits um einiges voraus. Die Sackgasse der lähmenden Selbstdefinition der Frau als Opfer des Patriarchats hatten sie — als Erzählerinnen obendrein — bereits in Gegenrichtung verlassen. In Oh Lucy dagegen sind Lesben oder Nymphomaninnen noch immer das Ergebnis eines schlechten bzw. guten Liebhabers.

Gleichwohl gilt für die neue Erzählung wie für die Geschichten der drei Damen: Helke Sander greift wichtige Fragen auf und beobachtet exzellent im Detail. Ihre Stärke scheint eher in der novellistischen Miniatur zu liegen als im übergreifenden Geschichtsentwurf. Das Lucy-Konstrukt jedenfalls steht auf zu schwachen Beinen, als daß es den Weg aus der Vorzeit zur Jetzt-Zeit, vom Matriarchat zum Patriarchat ohne gedankliche Einbrüche schaffen könnte.

Am Ende ist Hanna ohne Mann. Der nette Herr Kaiser überlebt den Urlaub mit ihr nicht. Fazit: Frau sollte auf keinen Fall nur im Urlaub denken — und Helke Sander wieder kurze Geschichten schreiben.

Christiane Engelmann, Norbert Kron

Helke Sander: Oh Lucy . Erzählung. Kunstmann Verlag, 160 Seiten, 19,80 DM.

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