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Mit Solschenizyn auf die Straße

■ Wladimir Sorokin über Sozart, den Bürgerkrieg und das Krankenhaus des Westens

Die Situation eines Bürgerkriegs kann nur in einer Gesellschaft entstehen, in der es Bürger und den Kampf von Parteien gibt. In Rußland, das seit 74 Jahren zu einem gigantischen Straflager geworden ist, gibt es anstelle von Bürgern Häftlinge und anstelle von Kämpfen zwischen Parteien den Wechsel in der Lagerkommandantur. Das jahrelange Verharren der Sowjetmenschen im Status von Häftlingen hat diese total entpolitisiert, wovon man sich unschwer beispielsweise auf Sitzungen des sowjetischen „Parlaments“ überzeugen kann: Das Plenum reagiert lediglich auf Intonationen von Rednern, es applaudiert „Linken“ und „Rechten“ gleichermaßen. In einer Situation wie dieser ist ein Bürgerkrieg grundsätzlich unmöglich: Eine Gesellschaft, die nichts als eine klebrige Biomasse darstellt, ist unfähig, sich politisch zu polarisieren, wie das im Jahre 1917 der Fall war, als sich die Gesellschaft in „Rot“ und „Weiß“ spaltete. Und selbst wenn dies geschähe, würde sie sehr rasch entweder die Positionen wechseln oder würde wieder zu einem einzigen Körper verkleben. Als erfahrener Empiriker hat Gorbatschow das sehr genau begriffen und weiß, daß ein Bürgerkrieg unmöglich ist. Seine Warnung davor ist nichts als ein taktischer Zug. Während der letzten stürmischen politischen Ereignisse in Zentralrußland ist aus politischen Motiven kein Tropfen Blut vergossen worden, in Moskau, in Leningrad haben die Demonstranten kein einziges Auto in Brand gesteckt, keine einzige Schaufensterscheibe eingeworfen. Was an den Rändern der Sowjetunion geschieht, ist die normale Reiberei zwischen Nationalitäten, mit einem Bürgerkrieg hat das nichts zu tun.

Das einzige, was die Politik der Perestroika für mich gebracht hat, ist, daß ich keine Angst mehr zu haben brauche, daß man mich für meine Veröffentlichungen im Westen ins Gefängnis sperrt.

In meiner Psyche, meiner Somatik, in meiner ganzen Lebensweise hat sie keine Spuren hinterlassen. Ich bin apolitisch wie zuvor, ob Stagnation oder Perestroika, Demokratie oder Totalitarismus, es ist mir wie zuvor egal. Ich fühle mich, wie zuvor, von der Gesellschaft ontologisch getrennt, ein Außenstehender und Beobachter, der Veränderungen gegenüber gleichgültig ist. Die Gleichgültigkeit hat eine besondere, spezifische Ästhetisierung der Geschehnisse bewirkt, in der man alles wie ein endloses, in die Länge gezogenes Theaterstück wahrnimmt. Vielleicht war ich deshalb schon elf Jahre in keinem richtigen Theater mehr.

Ich habe keine gesellschaftlichen Interessen. Als ich Die Schlange geschrieben hatte und sie im Westen übersetzt wurde, bin ich in Interviews oft nach dem Problem des Schlangestehens in der Sowjetunion gefragt worden. Aber mich hat die Schlange nicht als soziales Phänomen interessiert, sondern als Träger einer spezifischen Praxis menschlicher Rede, als ein außerliterarisches polyphones Monstrum. Auch wenn manche Kritiker, auch in Deutschland, dazu neigen, Die Schlange dem satirischen Genre zuzuschlagen: Die Schlange interessiert mich als gesellschaftliche Person, als autonomer kommunaler Körper, der seine unwiederholbare, nichtliterarische Sprache spricht. Diese Sprache hat ihren Reiz, ihren Zauber. John Cage hat einmal geschrieben, Sphärenmusik könne man auch in einer Bratpfanne hören, in der ein Rührei brutzelt. Wenn ich auf der Straße an einer Menschenschlange vorbeigehe, fliegen mir die Ausrufe, Zurufe und Satzfetzen nach wie ein Bienenschwarm. Dieser Schwarm ist wunderbar polyphon, er singt mit Hunderten von Stimmen, er verlangt nach einer Partitur. Die Schlange ist der Versuch einer solchen Partitur.

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Der Held, den es auch in der Schlange gibt, wird aus der Schlange gerettet: Er gehört damit in eine lange Tradition: Die Erlösung des Helden ist eines der Hauptthemen in der russischen Literatur. Denken wir an Auferstehung und weitere Romane Tolstois, an Schuld und Sühne von Dostojewski, an die Silberne Taube von Andrej Belyi und andere. In der Schlange wird der Held aus der monströsen Unbequemlichkeit des Schlangestehens durch das Privatleben gerettet — indem er sich mit einer Frau, der er zufällig begegnet, vereinigt. Er fällt aus dem einzigen kommunalen Körper des Soziums heraus und klebt buchstäblich fest am Körper Ljudmillas, der im Grunde auch seine Rettung bedeutet.

In dem Roman Marinas dreißigste Liebe geschieht das in umgekehrter Richtung — die Titelheldin wird aus der Vereinzelung, die Marina bedrückt, sie in Depressionen stürzt, ihr Leiden bereitet, errettet. Nach den Maßstäben der sowjetischen Moral ist Marina das absolute Böse, ein Übel, für das im kommunalen Körper des Sowjetvolks kein Platz ist: Sie ist eine drogensüchtige und kleptomane Lesbierin, eine Freundin und Helferin der Dissidenten. Die ontologische Trennung vom kommunalen Körper ist für sie in der Tat widernatürlich, da all ihre Laster ideologischen Charakter tragen. Bei allem Reiz der Freiheit, dem totalitären Staat zu widerstehen, ist Marina unterbewußt unbefriedigt, so wie es auf qualvolle Weise viele Dissidenten in der Sowjetunion waren. Ihre unverhoffte Rettung ist für den Leser vielleicht ungeheuerlich, für sie aber notwendig und von ihr auch erwünscht: Die Verschmelzung mit dem Kollektiv der Fabrik erlöst sie von solcher qualvoller Vereinzelung, von Neurosen und Frigidität. Leo Tolstoi wäre mit einem solchen Schluß hoch zufrieden gewesen.

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Die Rettung Marinas schließt die Erlösung von der Ideologie der Dissidenten logisch mit ein, deshalb entfernt sie auch das Foto des zottelbärtigen Alten mit dem stechenden Blick, das ihr zuvor eine Art Ikone gewesen war. Die sowjetischen Dissidenten der ersten Generation, die sogenannten Schestidesjatniki, sind bei all ihrer westlichen Orientierung eines immer geblieben: homo sovieticus. In ihrem Kampf gegen das kommunistische Regime haben sie sich von einer Gegenideologie leiten lassen, deren Mechanismus und deren Semantik sich von denen der kommunistischen kaum unterscheiden. Wie recht hatte einer meiner Freunde, als er einem westlichen Slawisten erklärte, was die (in Paris erscheinende Emigrations-) Zeitung 'Russkaja mysl‘ sei: die 'Prawda‘ der Gegenseite. Ideologisierte Menschen haben mich immer gereizt, das sind Menschen ohne Ironie und ohne Selbstironie. Im Umgang mit ihnen hat man das Gefühl, man habe eine Maschine vor sich, die nach einem festgelegten Programm funktioniert.

In den siebziger Jahren war Solschenizyn der Abgott vieler sowjetischer Dissidenten. Ein Bekannter von mir, ein eingefleischter Mystiker, war ehrlich davon überzeugt, daß man nur dreizehn Exemplare des Archipel Gulag in die Aktentasche stecken und mit den Büchern dreizehnmal den Moskauer Ring entlangfahren müsse, um das Zentrum Moskaus, den Kreml, und damit die gesamte Sowjetmacht zum Einsturz zu bringen. Seine Freunde waren lange damit beschäftigt, ihm diesen

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Plan auszureden. Ich bin überzeugt, daß viele Dissidenten das Foto Solschenizyns buchstäblich angebetet haben. Seit der Perestroika hat sich sein Ruhm allerdings etwas abgedunkelt.

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Ich habe mich seit meinen Anfängen mehr als Maler gesehen; Prosa habe ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr zu versucht, wenn auch nur für kurze Zeit. Damals hatte ich den Eindruck, als gelänge mir alles zu leicht. Das war uninteressant.

Mitte der siebziger Jahre geriet ich unter die Maler des Moskauer Undergrounds, in den Kreis der Konzeptualisten — Ilja Kabakow, Erik Bulatow, Andrej Monastyrskij. Da war die hohe Zeit der Sozart, und stark beeindruckt haben mich die Arbeiten Bulatows, die mein Verhältnis zur Ästhetik generell veränderten. Vorher hatte ich die abgebrochenen historischen und kulturellen Prozesse der 20er Jahre rezipiert, ständig in der Vergangenheit gelebt — mit den Futuristen, den Dadaisten, den Oberiuten (Abk., Schriftstellerbund für Konkrete Poesie; gegründet Anfang der 20er Jahre, bestand bis Mitte der 30er; d.Red.). Jetzt auf einmal sah ich, daß unsere monströse Sowjetwelt ihre eigene unwiederholbare Ästhetik besaß und besitzt, die zu verarbeiten sehr spannend sein kann, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt und in der Kette des kulturellen Prozesses gleichberechtigt ist.

Es mag paradox klingen, aber es waren gerade die Maler, die mich angestoßen und zur Beschäftigung mit der Prosa angeregt haben. Marcel Duchamps und Andy Warhol haben mich stärker beeinflußt als Joyce und Kafka. Zum Text bin ich über die bildliche Darstellung gekommen und werde auch weiterhin in vielem durch Visuelles angeregt, wobei ich mich der konzeptualen Kunst bediene. Dazu muß ich sagen, daß mir die Popart die Möglichkeit gegeben hat, nicht nur die Literatur, sondern auch die Kultur als Ganzes verfremdet zu sehen. In der Kultur gibt es für mich nichts Niedriges und nichts Hohes, sondern nur Interessantes und Uninteressantes. Für mich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Joyce und der 'Prawda‘, zwischen Michelangelo und Arno Breker. Ich kann mich von vielem bezaubern lassen.

Am meisten interessieren mich diejenigen Bereiche, die noch nicht in die Literatur eingegangen, die noch nicht Kultur geworden sind: die Sprache der Bürokratie, der Kanzleien, die Sprache der Geisteskranken — ihre Briefe. Ich lese mit großem Interesse die Literatur der Sowjetperiode, von der ideologischen wie dem Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (b) angefangen, bis hin zur künstlerischen, in welcher der stalinistische Nachkriegsroman, wie man sagen muß, auf erschütternde Weise die Hauptrolle spielt.

Wir haben den Sozrealismus als autonome ästhetische Richtung noch gar nicht wahrgenommen, aber die Zeit wird kommen, in der auch all dieses Material von der Kultur verdaut werden wird. Dabei ist dieses Gebiet geradezu ein Dorado, es gibt hier ganze Kontinente, die zu erforschen und zu verarbeiten ein ganzes Leben nicht ausreicht. Neben den bekannten Produktionsromanen, den Dorf- und den Kriegsromanen, gibt es beispielsweise auch die sogenannte wissenschaftliche Phantastik. Ich lese gerade die Sieben Farben des Regenbogens von Nemzow, einen Roman aus dem Jahr 1947 darüber, wie eine Gruppe von Komsomolzen, Erfindern, aufs öde Land fährt. Diese Leute heben dort gigantische Treibhäuser aus und züchten, unter Ausnutzung der Erdenergie, irgendwelches nie gesehenes Obst. Das ist einfach ein umwerfendes Stück Literatur, eigenständig und originell, das in vielem befriedigt.

Als ich jedoch versuchte, mit „traditionellen“ Schriftstellern und Literaturkritikern über den Sozrealismus zu sprechen, äußerten sich diese nur über ihr ethisches Verhältnis zu dieser Tradition; einige vertraten verantwortungslos die Auffassung, der Sozrealismus habe überhaupt nie existiert, es habe immer nur gute und schlechte Literatur gegeben. Dies belegt, daß innerhalb unserer Norm, unseres intellektuellen Milieus, sehr bald schon ein rein ästhetischer Blick auf diese Tradition nicht mehr existieren wird — wie auf die der Oberiuten zum Beispiel. Es gibt heutzutage nur sehr wenige, die das begreifen.

Generell denke ich, daß ein ethisches Verhältnis des Künstlers zu dem einen oder anderen Gegenstand der Kultur den Künstler nur behindert, seine ästhetische Autonomie untergräbt, seine schöpferische Freiheit einschränkt. Und das hat oft sehr komische Züge. Einmal begegnete ich bei dem Moskauer Maler Andrej Monastyrski einem jungen deutschen Komponisten, der mit Computermusik experimentierte. Wir sprachen an diesem Abend über totalitäre Kultur und die militaristischen Lieder der 30er Jahre, über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den stalinistischen und den nazistischen und so weiter. Mich interessierte das deutsche „Horst-Wessel-Lied“, denn ich hatte gehört, daß seine Melodie mit der des stalinschen „Fliegermarsches“ identisch sei. Ich fragte den jungen Komponisten, ob er dieses Lied kenne. — „Natürlich kenne ich es“, antwortete er. — „Dann spielen Sie es uns doch bitte hier auf dem Klavier vor.“ — „So einen Dreck spiele ich nicht“, antwortete er sehr ernst. — „Aber wir wollen es doch nicht im Chor singen, uns interessiert nur seine Identifikation mit einem Sowjetmarsch“, wandte ich ein. — „Nein, ich spiele es nicht“, antwortete er. Wir mußten lachen. Meiner Ansicht nach sind solche Komplexe einfach unzulässig. Von ihnen muß man sich trennen, wie von Jünglingsneurosen.

Literatur hat mich immer nur interessiert als eine Form des menschlichen Wahnsinns. Der Wunsch des Autors, seinen Körper durch einen Text zu verlängern, dem Leser seine Körperlichkeit überzustülpen, ist das, was am literarischen Prozeß am meisten erschüttert. „Jeder Text ist totalitär, denn er beansprucht die Macht über den Leser“, hat Foucault richtig bemerkt. Wenn ich die russische Literatur klassifizieren sollte, so erstünde sie vor mir in Gestalt einer merkwürdigen Landschaft. Daraus ragen gigantische Steinpyramiden heraus — die paranoiden Welten Gogols, Tolstois, Dostojewskis, Platonows, Solschzenizyns, der Klassiker des Sozrealismus. Diese Pyramiden sind umgeben von Gewässern — das ist die schizoide Literatur: Gontscharow, Tschechow, Turgenjew, Bunin, Nabokow. An den Rändern dieser Gewässer befinden sich die Sümpfe — die marginale Literatur: Chlebnikow, Charms, Wedenski, Wladimir Kasakow, Prigow, Rubinschtejn, Wsewolod Nekrassow.

Im Prinzip bin ich mit dieser Landschaft zufrieden, aber was mich am meisten anzieht, das sind die Sümpfe. Charms und Wedenski sind mir außerordentlich wichtig. Sie haben auf dynamische Weise die Linie Chlebnikows fortgesetzt, der die erste Bresche in die paranoiden Pyramiden der russischen Literatur geschlagen hat. Die Erfahrung der Oberiuten im Widerstand gegen die kollektive kommunistische Paranoia, die ihrerseits in vielem inspiriert war von der Paranoia Tolstois und Dostojewskis, ist einzigartig. Sie hat uns, in unserem Kreis, während der 70er und 80er Jahre sehr geholfen; dank der Oberiuten war es leicht, sich als marginal zu erkennen und in dieser Richtung zu bewegen, denn der Vektor war bereits in den 20er und 30er Jahren vorgegeben.

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Friedhöfe und Stätten der Massenvernichtung von Menschen haben mich immer angezogen. Wenn ich in eine fremde Stadt komme, versuche ich, den Friedhof zu besuchen. Dort ist es wunderbar ruhig und schön.

Mit Dachau verbindet sich das Sujet eines Textes, an dem ich vergangenes Jahr gearbeitet habe, als ich in Wien und danach in Feldafing lebte. Der letzte Krieg zwischen Deutschland und Rußland paßt für mich erstaunlich genau in das Freudsche Schema der sadomasochistischen Beziehungen. Die Erzählung Ein Monat in Dachau handelt von diesem Thema. Als ich nach Dachau kam, stieg ich in dem Kloster der Karmeliterinnen ab, das unmittelbar neben dem Zaun des Lagers steht. Bei Einbruch der Dunkelheit bat ich die Hauptschwester, mich auf das Lagergelände zu lassen. Sie öffnete mir liebenswürdig das Tor, und ich verbrachte zwei Stunden auf dem Gelände und ging in völliger Dunkelheit spazieren. Ich verspürte das Gefühl einer erstaunlichen und vollkommenen Ruhe. Zugleich verblüffte mich aber, daß der Stacheldraht, die mächtigen Zäune, die Tore, daß all dies noch heute funktioniert und das leere Lagergelände zuverlässig absperrt. In solch einer Sorgfalt steckt etwas Neurotisches, etwas wie der unbewußte Wunsch, diese steingewordenen Neurose zu bewahren.

Es gibt das Sprichtwort: Gut ist es dort, wo wir nicht sind. In Rußland reizen die totale Kriminalität der Gesellschaft, das schwere Alltagsleben, die materiellen Probleme. Jedesmal fährt man mit dem Gefühl der Erleichterung von dort weg. Man nimmt den Westen auf wie ein ideales, komfortables Sommerhaus, eine Datscha, in der man überaus bequem leben kann. Aber kaum sind ein, zwei Monate vergangen, hat man das Gefühl, schon zu lange auf der Datscha herumgesessen zu haben. Alles ist zu weich, zu bequem, die Menschen sind zu höflich. Es fehlt die russische Anarchie, die Ungesichertheit, es fehlen die russischen Räume. Ich kehre mit demselben Gefühl der Erleichterung zurück.

Überhaupt, wenn man die westliche Welt mit Rußland vergleicht, scheint mir folgende Metapher angebracht: Der Westen und Rußland sind zwei ontologische Krankenhäuser; in dem einen wie dem anderen sind die Menschen verurteilt. Nur werden sie im Krankenhaus des Westens von einer schmucken Einrichtung umgeben, auf jegliche Weise umsorgt, abgelenkt, man führt ihnen Videos vor, ein sympathischer Arzt reicht ihnen ein Glas Champagner und sagt: „Macht euch keine Sorgen, alles wird wieder gut.“ Im russischen Krankenhaus liegt der Patient auf einer verrosteten Pritsche in all der sowjetischen Dürftigkeit, ein mürrischer Arzt kommt herein und sagt: „Sie werden sterben.“

Welche der beiden Situationen die schrecklichere ist, das ist noch nicht gesagt.

P.S. Nach nächtelangen Versuchen, nach dem Putsch eine Telefonverbindung nach Moskau zu bekommen, gelang dies am 26.August, Moskauer Zeit früh um halb fünf. Sorokin ist hellwach, freudig erregt, beinahe fröhlich:

„Ich bin am ,Weißen Haus‘ gewesen, in den Nächten des Putschs. Es war, als hätte Stalin sich im Grabe umgedreht. Das Grab stand einen Augenblick lang offen, ihm entwich ein entsetzlicher, kaum auszuhaltender Gestank, dann hat sich das Grab — hoffentlich für immer — wieder geschlossen. Man spürt es an allem, überall: Es geht um etwas Neues. Wir haben auf dem gigantischen Körper eines Riesen gestanden, der jetzt zerschellt ist. Und verwest. Was uns bleibt, ist, ihn zu beschreiben.“ P.U.

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