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Zurück in die Zukunft

■ 1935 war die Eisenbahn auf dem Weg nach Berlin mit 160 Sachen schneller als heute

Jeden Tag schlängeln sich 2.100 Reisezüge durch diese Stadt. Würde man sie hintereinander hängen, wäre die Schlange von Waggons etwa 630 Kilometer lang — ein ununterbrochener Zug von Berlin nach Frankfurt am Main. Doch diese endlose Zahl von Abteil-, Schlaf-, Speisewagen und Lokomotiven genügt nicht: Wer Freitag abends oder Sonnabend morgens am Zoo, Hauptbahnhof oder Bahnhof Lichtenberg in einen der quietschenden Stahlbäuche ohne Platzkarte hineinsteigt und nach Hamburg, Hannover oder München will, sollte einen Campingstuhl mitbringen — alle Sitze sind besetzt, jeder vierte Fahrgast muß stehen. Täglich erreichen 150.000 Berliner diese Stadt »auf den Schienen« oder verlassen Berlin auf diesem Weg.

Und wenn der Weihnachtsmann kommt, wird das Gedränge auf den Bahnsteigen noch dichter werden. Die Reichsbahn wird über die Feiertage 117 Züge zusätzlich einsetzen, von denen 94 in die alten Bundesländer fahren. Aber auch das wird nicht reichen, um die Bahnkunden zufriedenzustellen. Hans Prast, Pressesprecher der Reichsbahn-Berlin, rät seinen Kunden schon jetzt, »flexibel« zu buchen. An den Schaltern oder im Reisebüro könnten problemlos die Züge herausgesucht werden, in denen mancher Polsterplatz bisher frei geblieben ist. 60 Tage im voraus kann reserviert werden und dieses Angebot werde kräftig genutzt, sagt Prast. Denn Schlaf- und Liegewagen seien bis Ende Januar ausgebucht.

Eine Bahn, bei der man entweder auf die freie Wahl des Zuges oder aber auf einen Sitzplatz verzichten muß, avanciert nicht zum ernst zu nehmenden Konkurrenten des Autos — denkt man. Denn nicht nur die Bahn büßt immer mehr an Attraktivität ein, sondern auch das Automobil. Im letzteren kann man zwar bestimmen, auf welchem Weg man wohin mit wem fahren will — aber auch hier muß man sich immer häufiger von der Vorstellung trennen, das wann frei wählen zu können. Wer Sonntag nachmittags in die Heimat-Hauptstadt zurückkommen will, steckt auf nahezu allen Autobahnen im Stau. Wie gerne würde man jetzt den Platz hinterm Lenkrad mit dem im Speisewagen tauschen. Auch wenn die Bahn noch nie so langsam wie heute war, der Autobahnstau läßt sie im Verhältnis zum 100-PS-Flitzer immer schneller werden. Nach München (etwa 680 Bahnkilometer) benötigt der InterCity zwischen neun und zehn Stunden, nach Köln (590 Kilometer) knapp sieben Stunden und nach Hamburg dreieinhalb Stunden. Einen Stundentakt gibt es allerdings nicht.

Aber selbst Wolf-Rüdiger Grätz, Mitglied der Interessengemeinschaft Eisenbahn und Nahverkehr Berlin (IGEB), hat Verständnis für die Schwierigkeiten der Reichsbahn. Das Dienstleistungsunternehmen habe »kein Material«, sagt Grätz, man könne die Leute aber nicht mit ausrangierten Gurken bedienen. »Man hat die Zeit verschlafen«, stellt Grätz fest. Wenigstens seien die Züge sauberer geworden. Er bezweifelt, daß die Lokomotiven schon heute schneller fahren könnten, denn überall werde gebaut. Entgegenkommende Züge müssen sich ein Gleis teilen — Warten ist angesagt.

Grätz sitzt am heutigen Samstag trotzdem wieder in irgendeiner Bahn: »Inspektionsfahrt.« Gemeinsam mit anderen IGEB-Mitgliedern will er gucken, wie schnell die Elektrifizierung der Strecke Berlin— Dessau—Magedeburg vorangeht. Bisher werde statt im schnellen ICE- im Schneckentempo gearbeitet, hat Grätz festgestellt. Statt täglich mit zwei Schichten würden die Schienenwege im Gegensatz zur Autobahn nur mit einer Schicht in Ordnung gebracht. Bei den Wochenend- Inspektionen würden die Gleishandwerker Grätz am ehesten sogar an »Arbeiterdenkmäler« erinnern.

Die Reichsbahn bezweifelt, daß nach acht Stunden Hammer und Meißel fallen gelassen würden. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagt Prast. Für das kommende Jahr erwartet der Pressesprecher noch nicht, daß es auf allen elf Hauptstrecken, die aus Berlin strahlenförmig in alle Himmelsrichtungen verlaufen, schneller vorangehen wird. Nur auf zwei, drei Strecken werde ab Ende Mai, wenn der gültige Fahrplan wechselt, wieder 160 Kilometer in der Stunde möglich. Auf den Strecken Hamburg—Berlin—Dresden, Berlin—Leipzig—Nürnberg—München, Frankfurt (Oder)—Berlin— Magdeburg—Halberstadt und Berlin—Halle—Erfurt werde dann der Zweistundentakt eingeführt.

Wer wissen will, wie schnell die Bahn in naher Zukunft sein könnte, muß zurück in die Vergangenheit gehen. Im Museum für Verkehr und Technik in der Trebbiner Straße 9 stehen Dampfrösser und Dieselloks aus zwei Jahrhunderten. Schon 1935 erreichten die rollenden schwarzen Kohlekessel die Stadt Köln eineinviertel Stunden und Hamburg eine dreiviertel Stunde schneller als heute. Dirk Wildt

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