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GASTKOMMENTARKein Poesiealbum

■ Aufklärung zu verhindern wäre ein später Sieg der Stasi

Wir haben die Bilder der Leipziger Demonstrationen vom Herbst 1989 noch gut vor Augen. Vor dem Stasi-Gebäude blieben die Menschen stehen. Vielen wurde jetzt erst klar, wie dieser Apparat ihr Leben beeinflußt hat, Angst und Mißtrauen in jedes Gespräch getragen hat, Menschen manipuliert, als Opfer und Täter geschädigt hat. Sie forderten die Offenlegung von Stasi-Verstrickungen als einen wichtigen Schritt zur Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit und für die demokratische Erneuerung. Für den saubersten Weg zur Aufklärung hielten wir das Wort der Betroffenen selbst — meine Achtung gehört den wenigen, die dazu den Mut aufbrachten. Dieser Weg hat nicht funktioniert, und Aussagen über Stasi-Zusammenhänge werden deshalb über Akteneinsicht durch die Gauck-Behörde gewonnen. Die Ergebnisse bestätigen unsere Zweifel oder schocken uns. Das kann gar nicht anders sein — Stasi-Akten sind kein Poesiealbum.

Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, wenn wir es mit der demokratischen Erneuerung ernst meinen. Zweifel an diesem Ernst kommen mir dann, wenn Menschen vor der Gauck-Behörde demonstrieren, um ihren Unmut über Ergebnisse zu äußern, oder Vertreter der Gauck-Behörde ausgepfiffen und niedergeschrien werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir wirklich Klarheit über Stasi-Beziehungen von Menschen vor allem in verantwortlichen Ämtern haben wollen, dann brauchen wir die Gauck-Behörde. Eine andere Frage ist die, wie wir mit diesen Fakten umgehen, hier ist Differenziertheit gefragt. Ich frage mich, ob nicht schon wieder die alte Angst am Werke ist, Angst vor der wirklichen Auseinandersetzung, die erst beginnen kann, wenn wir Recherchen auf dem Tisch haben. Wenn wir die Aufklärung nicht vorantreiben, sondern statt dessen die Bemühungen darum diskreditieren, dann wäre dies ein später Sieg der Stasi. Den gönne ich ihr nicht. Christine Bergmann (SPD), Bürgermeisterin von Berlin

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