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Doktorspiele bereiten vielen Probleme

■ Sexualwissenschaftler legt Studie vor: Fast die Hälfte der Erzieher hat Probleme im Umgang mit kindlicher Sexualität/ Nur wenige geben an, mit sexuellem Mißbrauch zu tun gehabt zu haben

Berlin. Auch 20 Jahre nach der Hochzeit der antiautoritären Kinderladenbewegung haben fast die Hälfte aller Erzieher und Erzieherinnen noch Schwierigkeiten mit kindlicher Sexualität. Das ergab eine Umfrage des Centrums für Sexualwissenschaft unter 1.094 Berliner Erziehern. Die Probleme der Westberliner scheinen größer zu sein als die ihrer Kollegen in Ost-Berlin. Während 56,6 Prozent der Befragten im Westteil angaben, bei der Arbeit Probleme mit der Sexualität der Kinder zu haben, waren es im Ostteil lediglich 37,4 Prozent. Psychologe Gerhard Schütz, Verfasser der Studie, vermutet allerdings ein weniger ausgeprägtes Problembewußtsein im Ostteil: »Im Westen ist kindliche Sexualität seit zwanzig Jahren ein Thema, während in Ost-Berlin die Diskussion erst jetzt anfängt.«

Die größten Schwierigkeiten bereiten Erziehern augenscheinlich sexuelle Aktivitäten der Kinder. 43,9 Prozent gaben an, mit Doktorspielen und Masturbation nicht umgehen zu können, während »nur« 27,1 Prozent mit verbalen Äußerungen Probleme haben. »Die meisten sind völlig hilflos, wenn sich ein Kind vor den Augen aller plötzlich auszieht und masturbiert«, sagt auch Schütz. Viele lenkten von der Situation ab oder forderten das Kind auf, sich gefälligst wieder anzuziehen. Schütz empfiehlt, das Kind gewähren zu lassen, sieht aber auch die Zwänge der Erzieher.

»Dann kommen die Eltern, andere Erzieher und die Kita-Leitung und beschweren sich.« Denn auch das förderte die Studie zutage: Jeder vierte gab an, Sanktionen von den Eltern zu befürchten, wenn er oder sie kindliche Neugierde ehrlich beantwortet. 41,8 Prozent der Westberliner Befragten haben außerdem Probleme mit ausländischen Eltern und deren Vorstellung von Sexualität.

Erkenntnisse liefert die Studie auch über das Bewußtsein für sexuellen Mißbrauch. So gaben drei Viertel der Erzieher an, noch nicht mit Mißbrauch in Berührung gekommen zu sein — davon 90 Prozent aus dem Ostteil und 63,8 Prozent im Westteil. Schütz führt das darauf zurück, daß sexueller Mißbrauch im Ostteil vor dem Mauerfall vollständig tabuisiert wurde und erst jetzt ins Bewußtsein gelangt. Realistisch sind die Angaben der Erzieher wohl kaum. »Wenn 400.000 Kinder in der Bundesrepublik sexuell mißbraucht wurden«, so Schütz, »müßte praktisch jeder Erzieher schon einmal damit konfrontiert worden sein.«

Der Psychologe mutmaßt, daß viele Erzieher sexuellen Mißbrauch von Kindern bewußt oder unbewußt nicht zur Kenntnis nehmen — aus eigener Betroffenheit oder weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. »Mit dem Thema wird keiner gern konfrontiert«, so Schütz. »Es hat ja auch jeder seine eigene Biographie, was Sexualität angeht.«

Das sei vermutlich auch die Ursache für die zahlreichen Probleme im Umgang mit kindlicher Sexualität. Viele würden diese schlichtweg leugnen, weil sie sich an ihre eigene nicht erinnern können, stellte Schütz fest. Oft sei gerade dieser Bereich sehr schmerzhaft erlebt worden und werde im Erwachsenenalter systematisch verdrängt. »Sich mit kindlicher Sexualität auseinanderzusetzen, erfordert eine sehr persönliche Auseinandersetzung, die viele scheuen.«

Schütz, der selber seit zwei Jahren sexualpädagogische Fortbildung für Erzieher anbietet, fordert mehr Ansprechstellen, wo sich Erzieher über Kinder und Sexualität austauschen können, sowie eine bessere Ausbildung. Diese dürfe jedoch nicht nur theoretisch sein. Sinnvolle Fortbildung müsse statt dessen auch den persönlichen Hintergründen des einzelnen Rechnung tragen. »Fast alle haben die gleichen Probleme, aber sie werden nie debattiert.« Auch in der Erzieherausbildung könne und müsse — nicht zuletzt im Sinne der Kinder — mehr Wert auf eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität gelegt werden. Jeannette Goddar

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