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Der geniale Triumph der Fernbedienung

„Mörderische Entscheidung — Umschalten erwünscht“ auf zwei Kanälen, Sonntag, ARD und ZDF, 21Uhr  ■ Von Karl Wegmann

Steven Spielberg erzählt immer wieder gerne, wie er und George Lucas sich im Mai 1977 zufällig am Strand von Hawaii trafen. Die beiden fingen gleich an, eine monumentale Sandburg zu bauen und dabei eine Geschichte für einen Film zu entwerfen. Das Ergebnis dieses Nachmittags war Jäger des verlorenen Schatzes, der erste Teil der weltweit erfolgreichen Indiana Jones-Trilogie.

Das Hawaii von Peter Nadermann, Redakteur beim „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF, und Joachim Dennhardt, Kulturredakteur beim WDR, war Köln, ihr Strand eine Kneipe in der Südstadt: Es ist jetzt ungefähr sechs Jahre her, da sitzen die beiden Kollegen gemütlich beim Bier zusammen, plaudern über Sendungen die sie vorbereiten und über neue Programmideen, die gegenüber der privaten Medienkonkurrenz öffentlich-rechtliches Selbstbewußtsein zeigen könnten. Nadermann schlägt vor, doch einmal ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Dennhardt winkt ab. Das Ganze scheint ihm angesichts der Konkurrenz zwischen ARD und ZDF weder inhaltlich sinnvoll noch medienpolitisch durchsetzbar. Doch je mehr er darüber nachdenkt, desto mehr fasziniert ihn der Gedanke. Man müßte allerdings ein Programm erfinden, das sich nur realisieren läßt, wenn man zusammenarbeitet. Und dann hat Dennhardt die Idee, aus der später die Weltneuheit Mörderische Entscheidung wird: ein identisches Programm auf zwei Kanälen aus unterschiedlichen Perspektiven gestalten. Nadermann ist Feuer und Flamme, er schlägt einen Spielfilm vor. Das Projekt nimmt Formen an. Ein erotischer Thriller soll es werden, die Liebesgeschichte eines Paares, das zu Beginn des Film noch nicht weiß, daß es sich am Ende finden wird — zeitgleich erzählt auf einem Kanal aus der Perspektive der Frau und auf dem anderen aus der Sicht des Mannes.

ARD und ZDF ließen sich ziemlich schnell von dieser kühnen Tele- Vision überzeugen. „Der öffentlich- rechtliche Schulterschluß war noch die leichteste Übung“, berichtet Joachim Dennhardt. „Weit schwieriger gestaltete sich die Finanzierung.“ Es wurden Partner im Ausland gesucht, die nicht nur den Mut hatten, das Experiment zu wagen, sondern auch über zwei Fernsehkanäle verfügten. Man wurde fündig: Bis jetzt werden auch Österreich, Italien, Spanien, Belgien, Holland und Luxemburg das Programm senden.

Als die beiden Redakteure mit ihrem Geniestreich schließlich zu Regisseur Oliver Hirschbiegel gehen, der 1986 mit seiner nervenzerfetzend inszenierten Sience-Fiction- Crime-Story Go-Projekt den Rahmen des „Kleinen Fernsehspiels“ sprengte und dafür jede Menge Kritikerlob und einen Zuschauerpreis bekam, glaubt dieser zunächst an einen Scherz, „doch als sie mir mehr erzählten und ich kapierte, daß sie es wirklich ernst meinen, war ich begeistert.“ Für den jungen Regisseur war es eine echte Herausforderung.

Vor allem im Hollywood-Film hat es immer mal wieder ungewöhnliche Erzählperspektiven gegeben:

—Billy Wilder ließ in Sunset Boulevard den ganzen Film in einer einzigen Rückblende von einer Leiche erzählen.

—Robert Montgomery machte 1947 den einmaligen Versuch, Chandlers Die Dame im See nur mit subjektiver Kamera zu erzählen: Montgomery, der auch den Detektiv darstellt oder besser spricht, ist nur im Prolog zu sehen einmal in einem Spiegel — ansonsten nimmt die Kamera den Platz des Hauptdarstellers ein.

—Vincente Minnelli brachte 1952 in seinem Film Die Stadt der Illusionen (The Bad and the Beautiful) die Charakterstudie eines ehrgeizigen Hollywood-Produzenten dadurch auf die Leinwand, daß er in Rückblenden die Mitarbeiter des Moguls jeweils ihre eigene Sicht erzählen läßt.

—In den 70er Jahren waren Mehrfachbilder (Split Screen) bei den Regisseuren sehr beliebt. Filme wie Woodstock oder Brian De Palmas Carrie sind typische Beispiele. Minnelli konnte seine unterschiedlichen Sichtweisen natürlich nur nacheinander präsentieren, und die verschiedenen Bilder der Split-Screen-Technik verwirrten den Zuschauer bloß.

Doch da, wo das Kino an seine Grenzen stößt, bieten sich Möglichkeiten fürs Fernsehen. Das hatten Nadermann und Dennhardt richtig erkannt. Dabei ist das absolut Geniale an Mörderische Entscheidung, die größte Horrorvision jedes Fernsehmachers, der Zuschauer könne via Fernbedienung aus seiner Sendung zu einem anderen Kanal „switchen“, zum Programm zu machen. Hier soll der Zuschauer zwischen den beiden verzahnten Handlungssträngen hin- und herschalten, er soll neugierig sein, was Er auf „seinem“ Kanal macht, wenn Sie auf „ihrem“ Kanal die Haustür vor ihm verschließt. Die Zuordnung der Kanäle wurde übrigens später per Los entschieden: Man warf eine Münze. Dadurch kam Sie zur ARD und Er zum ZDF.

Nachdem Oliver Hirschbiegel die Story auf etwa 40 Seiten entwickelt hatte, bekam der Engländer Tony Grisoni die Geschichte, der daraus ein Drehbuch machen sollte. Was er dann später ablieferte war „erschreckend brillant“, wie Hirschbiegel findet. Die Dreharbeiten fanden 1991 in Berlin statt.

So kann der Zuschauer im ZDF die Geschichte von Stefan, einem jungen Mann, der relativ erfolgreich Comix zeichnet, verfolgen. Stefan, gespielt von Nils Tavernier, dem Sohn des Regisseurs Bertrand Tavernier, ist ein typischer Vertreter der jungen männlichen Generation: Er weiß, was er kann, könnte Karriere machen, ist aber eigentlich ziemlich richtungslos. Ein bißchen macho, ein bißchen großmäulig, wird er trotzdem das Gefühl nicht los, daß ihm irgendetwas fehlt. In dieser Situation läßt er sich auf eine Geschichte und mit Leuten ein, denen er absolut nicht gewachsen ist, und natürlich verliebt er sich — in die schöne und geheimnisvolle Christine.

In der ARD wird der Thriller aus ihrer Perspektive erzählt. Christine, dargestellt von der spanischen Schauspielerin Mapi Galan, ist viel abgebrühter als Stefan. Obwohl weltgewandt und -erfahren lastet da doch ein dunkler Schatten aus der Vergangenheit auf ihr. Christine arbeitet für den zynischen TV-Showmaster Octave, dem jedes Mittel recht ist, um die Einschaltquote für seine geschmacklose Sendung in die Höhe zu treiben. Michael Byrne, der kürzlich noch als fieser Nazi-Offizier in Spielbergs Indiana Jones — Der letzte Kreuzzug zu sehen war, spielt diesen TV-Mephisto mit bewundernswert unterkühlter Bösartigkeit. Der Ire Byrne, er gilt als Shakespear-Spezialist, war von Mörderische Entscheidung so begeistert, daß er sogar von seiner üblichen Gagenforderung herunterging, um mitspielen zu können.

Zusammengehalten werden die beiden Geschichten, die in einer fiktiven europäischen Großstadt spielen, von einem mysteriösen Serienkiller. In seine monströsen Verbrechen werden Christine und Stefan verwickelt und immer tiefer hineingezogen. Mit einem brutalen Mord an einer Prostituierten geht es bei ARD und ZDF gemeinsam los. Nach ungefähr zehn Minuten treffen sich die beiden Hauptakteure das erste Mal und die Geschichten trennen sich. Oliver Hirschbiegel weist den Zuschauer deutlich mit Split-Screen darauf hin. Im folgenden unterscheiden sich die beiden Filme nicht nur durch die unterschiedliche Perspektive, sondern auch durch einen anderen Rhythmus, eine andere Farbgebung und durch verschieden arrangierte Musikstücke. „Ihre“ Version ist ein ruhiger, ausgefeilter Erotik- Psycho-Thriller. Die vorherrschende Farbe ist Rot, das Licht weich und klar. Bei „ihm“ ist es eher „serie noir“, mehr Action, weniger Dialog. Das Bild ist dunkler, Blau- und schmutzige Brauntöne herrschen vor. Sein Kanal ist schnell, ihrer eher langsam. Der Komponist Jürgen Knieper schrieb verschiedene Arrangements für die gleichen Musikstücke. Während zum Beispiel bei ihr das Thema durch ein Klavier vorgetragen wird, ist es bei ihm eine gestopfte Trompete. Der Betrachter hat also nicht nur einfach die Wahl zwischen zwei Geschichten, sondern er kann sich auch aussuchen, ob er lieber mehr Suspense oder mehr Erotik möchte, er kann sich für ihren milden Rhythmus entscheiden oder mit ihm actionreich durch dunkle Hinterhöfe ziehen. Das bedeutet aktives Fernsehen, denn seine Wahl kann der Zuschauer, ungefähr 80 Minuten lang, immer wieder revidieren — er hat die Fernbedienung und damit die Macht, sich aus den angebotenen Bildern seinen eigenen Film zusammenzustellen. Das Schwierigste bei der ganzen Sache war für Regisseur Hirschbiegel natürlich das Timing. „Schummeln, Zeit schinden, wie bei anderen Inszenierung üblich, war hier absolut unmöglich“, sagt er. Den Schnitt wollte Hirschbiegel „amerikanisch, denn meine Auflösung ist eine amerikanische. Die Amerikaner schneiden mit einem anderen Rhythmus, sind weniger dogmatisch, was Anschlüsse angeht. Also wurde eine anerkannte Spezialistin mit Hollywood-Erfahrung angeheuert. Die Kalifornierin Dody Dorn: „Ich habe an einem Schnittplatz mit zwei Bildschirmen gearbeitet, so daß die zwei Filme gleichzeitig gesehen und aufeinander abgestimmt geschnitten werden konnten. Der Schnitt mußte synchron stimmen und so angepaßt werden, daß alle Aktionen zur gleichen Zeit auf beiden Kanälen stattfinden. Jeder Zusatz oder jeder Schnitt, der auf einem Kanal vorgenommen wurde, mußte an der gleichen Stelle auch auf dem anderen Kanal gemacht werden. Am ersten Abend des Schnitts haben der Regisseur und ich die Lichter ausgemacht, uns zurückgelehnt und in einer ureigens für uns veranstalteten Premiere die erste Zwei-Kanal-Schnitt-Szene angeschaut. Und es funktionierte!“

Für resolute Fernbedienungsmuffel hat Hirschbiegel sehr geschickt und keineswegs aufdringlich ein paar dezente Hinweise zum Umschalten eingebaut. Wenn Stefan zum Beispiel etwas zu lang in ein Fenster starrt, dürfte das auch die müdeste Couchpotatoe auf Trab bringen, um selbst zu sehen was zum Teufel der Junge da eigentlich anglotzt.

Daß die Mörderische Entscheidung, an der er insgesamt vier Jahre gearbeitet hat, ein Erfolg wird, davon ist Oliver Hirschbiegel voll und ganz überzeugt. Er hat inzwischen mehrere Testvorführungen durchgeführt, und die Reaktion der Zuschauer war positiv. „Den meisten Spaß hatten die jüngeren Leute“, hat er dabei herausgefunden, „die switchten viel öfter, und das an Stellen, wo ich selbst niemals umgeschaltet hätte.“ Außerdem freut sich der Regisseur schon darauf, was am Abend der Ausstrahlung in den Wohnzimmern der Republik los sein wird. „Es werden wahrscheinlich Kämpfe um die Fernbedienung ausgetragen“, spekuliert er. Auch der Tag danach wird etwas Neues bringen fürs Fernsehvolk: Die obligatorische Frage „Hast Du gestern abend den Krimi gesehen“ werden die meisten noch mit ja beantworten können. Aber schon das folgende „War diese Szene nicht gruselig“ wird oft verständnisloses Kopfschütteln zu Folge haben. Denn obwohl alle die gleiche Geschichte gesehen haben, wird doch jeder an einer anderen Stelle umgeschaltet haben.

Mit Mörderische Entscheidung haben die Öffentlich-rechtlichen der TV-Unterhaltung eine völlig neue Dimension gegeben und die Privaten mit ihrer schwachsinnigen Fleischbeschau und ihrem Ami-Serien- Schrott auf die Plätze verwiesen. Für Hirschbiegel ist die Idee mit den verschiedenen Perspektiven noch längst nicht ausgereizt. Für ihn sind auch drei oder vier verschiedene Sichtweisen, zur gleichen Zeit ausgestrahlt, möglich, er fühlt sich „auf diesem Gebiet jetzt sicher“. Aber vielleicht gehen Peter Nadermann und Joachim Dennhardt ja auch bald mal wieder ein Bier zusammen trinken — wer weiß, was diesmal dabei herauskommt.

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