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Mozart in Prag, auf dem Rückweg

„Don Giovanni“ wieder am Ort der Uraufführung  ■ Von Frieder Reininghaus

Dieser Abend ging nur, weil Johnny Walker kam. Der Sponsor erschien im Verbund mit ČSA, der staatlichen Fluggesellschaft der Tschechoslowakischen Föderativen Republik, in- und ausländischen Banken und weiteren großzügigen Finanziers, um die Wiederaufführung der „Oper der Opern“ am Ort ihres ersten Erscheinens zu ermöglichen — einem Gebäude auf dem Prager Obstmarkt, das am 21.April 1783 als „Gräflich Nostitz'sches Nationaltheater“ mit G.E. Lessings Emilia Galotti eröffnet wurde und im Oktober 1787 die Geburtsstunden des Don Giovanni von Lorenz da Ponte und Wolfgang Amadé Mozart erlebte.

1799 kauften die böhmischen Landstände das Theater, das fortan „Ständetheater“ genannt wurde. Von Mai 1813 bis Dezember 1816 war Carl Maria von Weber Musikdirektor dieses Deutschen Theaters, in dem nur an Sonn- und Feiertagen Vorstellungen auf tschechisch gegeben wurden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diente der klassizistische Bau, dessen Flanke an die spanischen Schiffe der Eroberungszeit erinnert, ganz und gar als „Deutsches Theater“ (und hieß auch so). 1920, zwei Jahre nach der Konstruktion der Tschechoslowakei durch den Frieden von Versailles, besetzten tschechische Schauspieler das Haus und erreichten, daß das Theater ihrer Volksgruppe zugeschlagen wurde (die im neu entstandenen Staat knapp die Hälfte der Bevölkerung stellte — gegenüber einem Viertel deutschsprachiger Einwohner und der jeweils sehr viel kleineren Anteile an Slowaken, Mähren, Magyaren und Ruthenen).

1948 tauften die Kommunisten die im Kampf um kulturelle Einflußzonen wichtige Institution in „Tyl-Theater“ um: benannt nach dem Dichter und Komponisten Josef Kajetan Tyl, von dem das 1834 entstande Lied Kde domov muj stammt, das jetzt als Nationalhymne dient. Bis 1983 wurde das langsam in Verwesung übergehende Theater bespielt, seitdem umfassend erneuert: Aus statischen Gründen erhielt das Gebäude weit in die Tiefe reichende Fundamente, die nun einen zweistöckigen Keller und in diesem Platz für den Fundus sowie modernste Bühnentechnik einfassen. Eine in das Pflaster hinter dem Theater eingelassene Plattform läßt sich hydraulisch so absenken, daß ein Lastwagen mittlerer Größe die Kulissen bis direkt unter die Hebevorrichtung der Bühne transportieren kann.

Mit einem Kostenaufwand von 750 Millionen Kronen — etwa 45 Millionen Mark — erhielt Prag nun neben dem großen Nationaltheater an der Moldau und dem „Smetana Divadlo“ (bei der Nationalgalerie) eine dritte, aus akustischen und optischen Gründen für kleiner dimensioniertes Musiktheater glänzend geeignete Spielstätte; die Bankers Trust Company hat die Rekonstruktionsarbeiten mitfinanziert, die mitten in der tristen Husak-Ära in Auftrag gegeben wurden. Das Sanierungsprojekt, das die so dürftig ausgestattete Staatskasse erheblich belastete, verdankt sich der Einsicht in die Notwendigkeit von Stadtsanierung — das ganze Viertel rund um den Obstmarkt wurde im Zuge der Wiederaufbereitung des Theaters renoviert, bildet jetzt ein Schmuckstück in der vom Verfall bedrohten Hauptstadt.

Das Herausputzen des Tyl-Theaters fügte sich in die Strategie der Kommunistischen Partei des Landes, mit betulichen Opern-Inszenierungen die ČSSR als Kulturnation zu propagieren. Die sich demokratisierende Gesellschaft hat die drei Opernhäuser Prags als Hypothek und als Chance vererbt bekommen: Nicht auf ewig muß in den Räumen des „Narodni Divadlo“ der Mief der zwanzig „Normalisierungs“-Jahre stehen; die sozialistisch-realistisch zugerichtete Staatsoper kann sich zu einem vielgestaltigen modernen Musiktheater wandeln.

Am ehesten könnte dabei das unvorbelastete neue Theaterchen aus der Tiefe der wechselvollen Geschichte hilfreich sein — ein Haus, das nicht Tausende betönen und betören muß, sondern mit seinen 650 Plätzen, der Nähe der Zuschauer zur Bühne und dem Fehlen aller Gigantomanie differenziert und flexibel auf ein sich veränderndes Zuschauerbewußtsein reagieren vermag. Für das Herausbilden neuer Hörerfahrung und Sehweisen war es gewiß nützlich, daß Johnny Walker & Co. in die Taschen griffen: Das ermöglichte jetzt, daß qualifizierte Sänger in das Land geholt werden konnten, das so vehement an Devisenknappheit leidet, daß ein auslandserfahrener Kapellmeister verpflichtet wurde. Auch mußte bei der Ausstattung nicht so gespart werden, daß sich den Augen nur billigstes Theater-Talmi präsentiert.

Wo immer in Mitteleuropa im letzten Jahrzehnt Theaterbauprojekte ins Werk gesetzt wurden, waren diese von mehr oder minder schrillen Protesttönen begleitet. In Köln hatte es beim Museums- und Philharmonie-Neubau mit etwas Gemecker der Alternativpresse sein Bewenden.

In Zürich, wo die Oper wiederaufbereitet werden mußte, inszenierten einige Bürgerskinder zusammen mit den von der Wohlstandsschweiz zu kurz Gehaltenen die mehraktige Komödie Züri brännt. In Amsterdam verlief die Randale von Kraakers & Co. charmanter: Die Gasse johlte und gab mit Höllenlärm ihr Ständchen zur königlichen Inauguration. In Paris aber nahm man den Umzug vom altehrwürdigen Palais Garnier zur Opéra Bastille im Rahmen der gewaltförmigen Stadterneuerungsmaßnahmen fast widerspruchslos hin — schließlich kann und will man nicht bloß in einem Museum des 19.Jahrhunderts leben. Genau auf das aber bewegt sich Prag mit der Wiederinbetriebnahme des Hauses auf dem Obstmarkt — gar unter dem Namen Ständetheater zu.

Gegen die Sanierung des Stadtviertels und des „Stavovské Divadlo“ ging in Prag niemand auf die Barrikaden. Der Kampf gegen das Theater, von dem geargwöhnt wird, es werde „künftig einer gutbetuchten Besucherschaft vorbehalten“, wird stellvertretend von selbsternannten Rächern der angeblich Entrechteten geführt — zum Beispiel von dem noch in Ost-Berlin existierenden vormaligen Zentralorgan der SED-Jugendorganisation FDJ (jetzt entzückend „fdj“ — d. korr.). Als hätten in der Vergangenheit die Arbeiter und Bauern die Premieren des Narodni Divadlo gefüllt (und nicht die Nomenklatura nebst Gattinnen), prognostizierte die 'Junge Welt‘, daß „Premieren künftig für den künstlerischen Normalverbraucher unerschwinglich werden sollen“.

Mag sein, daß für die Karten zur Gala-Vorstellung, mit der Anfang Dezember (unter Anwesenheit des Präsidenten Vaclav Havel) eröffnet wurde, ein Schwarzmarkt existierte, wie für so manches in den Ländern hinter den sieben Bergen. Aber die Karten kosten offiziell für Schauspiel-Vorstellungen im Stavovské Divadlo auch künftig weit weniger als in der Bundesrepublik, beim Schauspiel 14 bis 54 Kronen (80 Pfennige bis 3.10 DM), bei Opernabenden zwischen 75 und 900 Kronen (4.50 bis 51,50 DM). Die als „nicht dementierte Nachricht“ von der 'Jungen Welt‘ in Umlauf gebrachte Behauptung, daß der Don Giovanni „nur für 4.000 Kronen pro Karte“ zu sehen sein soll, gehört zu dem auf dem Territorium der DDR virtuos eingeübten Kanon der Verleumdungen. Das macht sich bei einer gewissen Klientel ja nicht schlecht: daß die ungeliebten Bürgerlichen in Prag das Theater, das Genosse Husak dem Volke weihen wollte, jetzt für die reichen Säcke aus dem Westen und die Devisenschieber des Mittleren Ostens nebst angehängten Nerzmänteln betreiben. Viertausend Kronen, so die stellvertretende Empörung — mehr als ein Durchschnitts-Monatslohn!

Gegeben wurde zum Einstand einer neuen Ära des alten Theaters eine gut durchgearbeitete, unaufwendige Inszenierung der Mozart-Oper von 1787. Regisseur David Radok ließ sich von Tazeena Firth einen langen Holzsteg auf die extrem schmale Bühne des Stavovské Divadlo bauen, der vom Orchestergraben zwanzig Meter in den Hintergrund führt. Dieser Holzweg steht für die Straße, die von Sevilla herführt. Sie endet vor einer Wand, auf der das Ständetheater gemalt ist. So pfiffig wie dieser letzte Weg für den „sehr leichtfertigen jungen Edelmann Don G.“ gerieten auch die Aktionen der Sänger — sie sind gehalten, sich an da Pontes Libretto zu halten; und doch zeigen kleine Zeitverschiebungen, Vorwegnahmen oder Parallelhandlungen den Niedergang einer dekadenten Adelskaste.

Es ist alles hübsch anzuhören und anzusehen bei dieser Mozart-Produktion, zumal Sir Charles Mackerras von Anfang an für das nötige Brio der Allegro-Teile sorgt, die unendlich schönen musikalischen Augenblicke dann aber fast anhalten möchte. Don Giovanni zehrt, bei dieser Rückkehr an den Ort seiner Geburt aus dem Geiste der Musik, von der Aura des Raums. Der erscheint fast wie ein Traum aus versunkener Zeit, die er golden verklären wird, wenn die Theatermacher nicht auch gegensteuern. Auch Johnny Walker könnte der bloßen Nostalgie überdrüssig werden.

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