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»Was hat man dir, du armes Kind, getan?«

■ Gewalt gegen Kinder in Berlin-West und -Ost: Erster Teil einer Serie/ Kinderpornographie als »private Lolita-Videos« und in obskuren Galerien

»Das Mädchen, das ist weggelaufen von zu Hause. Der Vater, der war böse, die Mutter die war... böse. Das Brüderchen war aufgefressen, ham die Ohren abgerissen, ham die Beine abgeschnitten und die Augen ausgekratzt, den Bauch aufgeschlitzt und den Kopf abgehackt und das Blut getrunken... hat das Mädchen Angst gekriegt und ist weggelaufen...« Überall in Berlin gibt es Kinder wie jenes, das Helma Fährmann vom Theater »Rote Grütze« in ihrem Stück Gewalt im Spiel darstellt. Kinder, denen Erwachsene Gewalt angetan haben, und nun produzieren sie selbst Gewaltfantasien.

Angst pocht in ihnen. Manche Kinder können nicht weinen wie die »kleine« Helma, sie sind erstarrt. Ihre Tränen rinnen in die Bauchhöhle. Wohin mit den qualvollen Erfahrungen? Es ist kein Zeuge da. Was diesen Kindern geschah, unterliegt der Schweigepflicht... und der Normalität: Selbst die wenig sensationsheischende Kriminalpolizei schätzt, daß ein Viertel aller Berliner Mädchen und ein Siebentel aller Jungen sexuell mißbraucht werden. Solche Zahlen sollten erschrecken, die Gesamtgesellschaft zu Taten, zu Prävention aufrütteln.

Doch das jahrhundertealte Bild vom »Mindermenschen Kind« hat eine lange Halbwertszeit. Sich ihm zu nähern, erschrickt und macht Angst. War man nicht selbst ein Kind? War die eigene Kindheit etwa gar nicht die sprichwörtlich »goldene«? Die Wiederkehr des Verdrängten droht. Doch gerade deshalb gilt: Dort, wo die Angst ist, da geht‘s lang. Die Vorstellung, daß das eigene Kind auf dem Spielplatz in der Neuköllner Hasenheide vor sexuellen Übergriffen nicht sicher ist, hat Realität. Gleiches gilt für den Görlitzer Park in Kreuzberg, für Parks überhaupt. Für Hauseingänge, Keller — in ganz Berlin. Für West und für Ost. Und es gilt erst recht in den Familien der Stadt. Der weitaus größte Teil aller Fälle von sexuellem Mißbrauch findet im furchtbaren Schoß der heiligen Familie statt. Heimlich, im Dunkeln, als Dunkelziffer wird der »Mindermensch Kind« zum Objekt der Pathologie von Erwachsenen. Das Kind wird die Tat — ob Mißbrauch oder Mißhandlung — schon nicht erinnern, so die gängige Auffassung. Doch der Körper des Kindes vergißt nichts. Jede Wunde bleibt präsent. Die Übergriffe der Erwachsenen erzeugen seelische Verletzungen, die oft ein Leben lang nicht mehr heilen. Dort, wo die Traumatisierungen als Symptome sichtbar werden, avancieren sie mitunter zum Gegenstand von Therapien und seit einiger Zeit auch zum Gegenstand von Öffentlichkeit.

Plötzlich wird klar, wozu Kinder benutzt werden. Von ihren Eltern. Beispielsweise als Darsteller in pornografischen Filmen, die zu horrenden Preisen ihre Abnehmer finden. Als »private Lolita-Videos« sind sie im Angebot. Präsentiert man die gnadenlose »Werbung« für diese Filme der unvorbereiteten Öffentlichkeit Im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema, dann ist es zunächst einmal der Schock, der die Reaktion bestimmt. Der vor Sekunden noch ahnungslose Mann schluckt. Er hat Schwierigkeiten, Worte zu finden. Das Atmen fällt ihm schwer: »Was ich hier sehe, kannte ich so noch nicht. Es macht mich... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll... es macht mich relativ sprachlos und dann eigentlich auch wütend. Wenn man sieht, mit welcher Brutalität die Leute da vorgehen, dann ist das schlicht unglaublich.« Die Frau neben ihm scheint souveräner, aber ebenso empört: »Ich bin natürlich schon öfter mit dem Thema in Berührung gekommen. Ich habe mehrere Freundinnen, die sexuell mißbraucht worden sind. Zudem hat mir gerade neulich eine Bekannte, die Übersetzerin bei Gericht ist, von dem Fall eines Niederländers erzählt, der Fotos von nackten Mädchen am FKK-Strand gemacht und verkauft hat. Der Mann wurde freigesprochen. Sie erzählte, der Niederländer habe sich damit gerechtfertigt, daß die Kinder ja ohnehin nichts von alledem merkten, und das sei doch alles gar nicht so schlimm. Gerade diese Verharmlosung macht mich wütend.«

Es ist müßig, aus den Angeboten der Kinderpornohändler zu zitieren. Es mag reichen, Titel wie Liebe unter Schwestern und Vater mit Tochter oder jenen papiernen »Freizeit-Partner-Service« zu nennen, der mit der Frage aufwartet: »Suchen Sie etwas Junges, Ausgefallenes?«

Frauke Homann, Sozialarbeiterin an der Kreuzberger »Kiezschule« und engagiert bei der Beratungsstelle für sexuell mißbrauchte Mädchen »Wildwasser«, weiß sehr genau, daß beispielsweise Kreuzberger Kinder immer wieder Mißbrauchs-»Angeboten« ausgesetzt sind: »Es werden Kinder angesprochen und gefragt, ob sie sich für fünf Mark fotographieren lassen. Die Polizei findet oft genug Fotoalben mit vielen, vielen Aufnahmen, auf denen Kinder abgelichtet sind, die sich hinterher nicht einmal mehr erinnern können, wann und wo diese Fotos gemacht wurden. Erschwerend kommt hinzu, daß Pornographie den Kindern generell nicht fremd ist. Fast 80 bis 90 Prozent der Schüler an unserer Haupt- und Realschule konsumieren bereits Pornographie. Wenn man dieses Thema nur antippt, dann hat man sehr schnell eine ganz lebhafte Diskussion. Ich frage mich, was zu Hause für eine sexuelle Atmosphäre zwischen den Generationen existiert und wie das von den Kindern bewältigt werden soll.«

Die »Boys-Art-Galerie«

Die Entdeckung der Vertriebsstellen von Kinderpornographie ist möglich. Man muß nur genau hinschauen. Wach sein. Zossener/Ecke Baruther Straße: »Boys-Art-Galerie«. Der Name macht bereits aufmerksam. Die auf Plakaten annoncierte Ausstellung »Russian Boys« ebenfalls. Wer die Stufen zur Residenz des »Medium-Verlages« hinabgestiegen ist und sich umschaut, wird angestarrt von erigierten Schwänzen, hinter denen sich junge Körper und Gesichter verbergen. Farbfotos, großformatig, en masse... Das Personal gerät ins Schwitzen ob des unerwarteten Besuchs: »Nein, unsere Namen nennen wir nicht. Woher kommen Sie eigentlich?«

Mikrofon und Bandgerät müssen in der Tasche bleiben. Nur Kopf und Feder dürfen notieren, welche Antworten man hier auf Fragen parat hält: Sind das nicht Minderjährige, da auf den Farbfotos? »Nicht, daß ich wüßte...« Der fettleibige Pferdeschwanzträger verschwindet in den hinteren Räumen der Galerie. Sein Kollege ist auskunftswilliger: »Das ist alles Kunst hier. Und ob die Jungen auf den Fotos Minderjährige sind, weiß ich auch nicht.«

Auf alle Fälle ist die angebliche »Galerie« gut besucht, erstaunlicherweise sogar von beiden Geschlechtern. Männer und Frauen interessieren sich also für Hefte wie Jimmi und Andy, für The Best of B-Engel und für Toby, den Clown, der auf keinen Fall älter als zehn oder elf Jahre ist und nackt auf dem Titelfoto präsentiert wird. Das hat wohl nichts mit Kinderpornographie zu tun?

»Das sind FKK-Aufnahmen, nichts weiter. Keine Kinderpornographie. Das gilt auch für unsere anderen Fotos — das haben wir sogar schriftlich vom Staatsanwalt. Der machte bei der Hausdurchsuchung eines Fotografen einen Zufallsfund — eine unserer Fotoserien. Die schickte er uns mit dem Vermerk ‘nicht pornografisch‚ zurück«.

Mario — zart und selten hat also nichts mit Pornographie zu tun. Qua definitionem. Einer die kindliche Würde zertrümmernden Definition, wohlgemerkt. Die vibratorgestützten Fotos einen Tisch weiter sind zwar, diesmal sogar offiziell qua defitionem, Pornographie, aber mit angeblich volljährigen »Jungens« als Darstellern und zudem aus Polen. All dies wird bei »Boys-Art« angeboten und was für — Zitat — »zumutbar« gehalten wird, kommt ins Angebot. Also mißbrauchte Kinder und Jugendliche als Offerte?

»Das muß ich weit von mir weisen. Das Ganze ‘Mißbrauch‚ der Jungen zu nennen, ist doch eine sehr platte Geschichte. Es hängt vom Fall ab. Das Ganze kann positiv, aber auch negativ sein.«

Hört, hört! ... Es ginge, so mein anonymer Gesprächspartner, schließlich nur um Beziehungswünsche, die es qua Foto und Film zu sublimieren gälte. So einfach ist das... Derweil hat ein männlicher Kunde den Laden betreten. Ein Volljähriger, denn der »Zutritt ist für Minderjährige verboten« (!). Der Mann blättert in den Magazinen. Daß er pädophile Bedürfnisse hat, sah ihm draußen vor der Tür niemand an. Daß er, der Konsument, vom Mißbrauch der Kinder profitiert, würde er nie eingestehen. Der Mann schweigt. Nur gut, daß manche Opfer das nicht tun:

»Wir haben einen Jungen kennengelernt, und der Vater von dem, der ist so ein Typ. Als wir bei dem zu Hause waren, hat er gefragt, ob wir Spiele spielen wollen. Ham wir gesagt: ‘O.K.‚ Dann machten wir Kartenspiele. Der Verlierer mußte ein Bier oder einen Schnaps auf Ex austrinken und sollte die Hose ausziehen. Da habe ich keinen Bock drauf gehabt und bin ab nach Hause. Ein halbes Jahr später hat der Mann bei mir angerufen und hat gesagt, er macht jetzt 'ne Zeitung und will Fotos von mir machen, Nacktfotos. Sein Sohn wollte sich nicht mehr fotografieren lassen.«

Der Name dieses Jungen interessiert nicht. Interessieren sollte aber, daß er vor einiger Zeit von einem Krankenhausangestellten mit Hilfe von Pfänderspielen und Alkohol gefügig gemacht werden sollte. Der Versuch scheiterte, ebenso wie jener, den Jungen als Aktmodell für eine angebliche »Hochzeitszeitung« zu gewinnen. Der Junge ahnte, daß man die Ablichtung seines Körpers als Onaniervorlage mißbrauchen wollte. Er sollte mißbraucht werden für Fotografien, die später in ominösen Galerien wieder auftauchen und den selbsternannten Knabenliebhabern Hunger auf mehr machen... auf mehr Mißbrauch.

Denn oft bleibt es nicht beim Anschauen der Bilder. Der Pädophile zum Beispiel, der später den Jungen und seinen Freund zu sich nach Hause einlud, wollte mehr als nur Fotografien von den beiden: »Na, der hat uns immer gefragt, ob wir's mit ihm machen wollen. Dabei hat er auf dem Bett gelegen und immer mit Fünfzig-Mark-Scheinen herumgewedelt... Arschficken wollte der, aber das haben wir gleich abgelehnt. Da war er ein bißchen beleidigt.«

Das Rezept funktioniert oft genug: Fehlende Liebe wird durch Geld und Gewalt ersetzt. Die vernachlässigten Kinder und Jugendlichen, die größtenteils auf den Straßen dieser Stadt leben, haben zu Hause nichts zu erwarten. Sie haben keinen Begriff von Liebe und Zärtlichkeit. Ihre Bedürftigkeit beutet der, in diesem Fall vorbestrafte, Pädophile, ein ehemaliger Heimerzieher, hemmungslos aus. Alle Mittel sind ihm recht, um ans Ziel zu kommen. Der Freund des Jungen wurde regelrecht »geködert«: »Der hat mir Pornofilme gegeben und manchmal hat er uns für 100 Mark sein Zimmer aufräumen lassen. Am meisten hat mich aufgeregt, daß der Hundesohn fünfzig Mark vor unseren Augen verbrannt hat, damit wir sagen: ‘O.K., wir machen's mit dir, verbrenn' das Geld doch nicht.‚ Der ist doch blöde im Kopf. Erst hat er uns fünfhundert Mark geboten, wenn wir mit ihm ins Bett gehen, dann hat er sogar gesagt: ‘O.K., ich geb' euch beiden tausend Mark.‚ Da hab' ich gesagt: ‘Nee, verpiß Dich!‚«

Der »Falckensteinkeller«

Nur wenige Jungen reagieren so selbstbewußt. Und es sind ebenfalls wenige, die über ihre Erfahrungen sprechen. Gewalt ist den Kindern und Jugendlichen normaler Bestand ihres Alltags. Da ist kaum jemand, der ihnen zur Seite steht. Ihre Situation bleibt die immergleiche, auch wenn mal ein getarntes Nachbarschaftsprojekt wie der Kreuzberger »Falckensteinkeller« auffliegt, in dem angeblich nette, freundliche Männer bei den Schularbeiten halfen, Eis spendierten, mit ihren »Schützlingen« ins Kino gingen und sogar mit ihnen nach Dänemark verreisten. Die Gegenleistungen, die die netten Männer verlangten, waren körperlicher, sexueller, gewalttätiger Art. Der Keller wurde vor einigen Jahren geschlossen, doch es gibt wieder andere. Zudem hat sich die Szene eher in Privatwohnungen verlagert. Von daher ist der Falckensteinkeller in Kreuzberg zu einer Metapher für den aushäusigen sexuellen Mißbrauch geworden, wie er nach Aussagen des seit Jahren mit sexuell mißbrauchten Jungen arbeitenden Sozialpädagogen Christian Spoden nach wie vor existiert: »Die ‘Falckensteinkeller-Kinder‚ und die ‘Falckensteinkeller-Täter‚ gibt es immer noch. Mit den Tätern ist mit Sicherheit niemals gearbeitet worden, das heißt, die haben ihr Problem nicht gelöst und denen ist auch kein entsprechendes Angebot gemacht worden. Ohnehin hätten die kein Angebot angenommen. Die mißbrauchten Falckensteinkeller-Kinder indes werden erwachsen, wiederholen vielleicht aktiv oder passiv ihren Mißbrauch, bekommen später selbst wieder Kinder, und so wird der sexuelle Mißbrauch eine Angelegenheit, die sich über Generationen erhält.«

Christian Spoden arbeitet zusammen mit Frauke Homann an der Kreuzberger Kiezschule. Der eine mit Jungen, die andere mit Mädchen. Zum Thema »Gewalt«. Seit Jahren schon. Ihre Tätigkeit hat beiden einen Einblick in die Häufigkeit und die Vielfalt sexuellen Mißbrauchs ermöglicht, der einem den Atem verschlagen kann. Christian Spoden: »Dadurch, daß wir jetzt schon länger an der Schule arbeiten und als Anlaufstelle für das Problem sexueller Gewalt bekannt sind, kriegen wir auch die Fälle mit, in denen sexueller Mißbrauch im erzieherischen Bereich stattfindet, also außerhalb der Familie, dort, wo die Kinder eigentlich Schutzbefohlene sein sollten. Wir lernen als Professionelle immer dazu: Am Anfang haben wir gedacht, Mißbrauch beziehe sich nur auf die Teenager-Mädchen, dann haben wir mitbekommen, daß dies eigentlich nur das Aufdeckungsalter ist. Dann haben wir entdeckt, daß auch Jungen mißbraucht werden. Jetzt wissen wir, daß die zweitgrößte Anzahl von Mißbrauchsfällen in der Altersklasse von null bis sechs Jahren zu finden ist. Und wir kriegen auch langsam eine Idee davon, daß nicht nur Männer die Täter sind, sondern auch Frauen, auch wenn man sagen muß, daß das im Augenblick sehr hochgespielt wird. Überwiegend sind nach wie vor Männer die Täter und Mädchen die Opfer.« Detlef Berentzen

Detlef Berentzen ist freier Autor und Journalist für Printmedien, Rundfunk und Fernsehen sowie Redakteur der 'Zeitschrift für Kindheit‘ »enfan't«. Die Serie wird am Freitag fortgesetzt.

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