: Der Abendhimmel
■ Ein Ärgernis zu Majakowski
Was für eine faszinierende Frau muß Lilja Brik gewesen sein: schön und charmant, klug, kosmopolitisch orientiert und von lebhaftem künstlerischem Interesse. Sie gehörte zum geistigen Zentrum der avantgardistischen Literaturszene der jungen Sowjetunion. Die trifft auf Wladimir Majakowski, das rauhbeinig auftretende Dichtergenie, das sich ganz in den Dienst der neuen sowjetischen Gesellschaftsordnung stellt. Lilja und ihr Mann Ossip Brik erkennen sofort sein Talent, als er ihnen sein Poem Wolke in Hosen vorliest. Die Briks nehmen ihn bei sich auf, verlegen seine Bücher und unterstützen ihn in seinen zahlreichen Lebens- und Schreibkrisen. Lilja wird zur zentralen Frauengestalt in Majakowskis Leben, ihr widmet er seine Bücher, schreibt ihr hinreißend-sehnsuchtsvolle Liebesbriefe, zu ihr kehrt er trotz zahlreicher Affären und Eskapaden immer wieder zurück.
Das außergewöhnliche Freundschafts- und Liebesverhältnis zwischen den Briks und Majakowski ist bereits wiederholt dargestellt worden, es ist Bestandteil der Literaturgeschichte. Allerdings paßte Lilja Briks Rolle im Leben des „Dichters der Oktoberrevolution“ nicht zum Schulbuch des ungebrochenen Helden Majakowski. Als Lilja Briks Schwager Louis Aragon den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn kritisierte, wurde sie vollends zur Persona non grata. Auf Bildern, die sie gemeinsam mit Majakowski zeigt, hat man sie nach inzwischen bekanntem Muster herausretuschiert.
Der zu Lilja Briks hundertstem Geburtstag im Verlag Volk und Welt zusammengestellte Memoirenband Schreib Verse für mich verspricht nun, nachdem Zensurrücksichten nicht mehr zu nehmen sind, „eine Seite des Dichters und Menschen Majakowski zu schildern, von der nur wenige wissen“.
Doch ihre Erinnerungen an Majakowski, die zwischen 1956 und 1977 entstanden, sind eine einzige Enttäuschung. Mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten hätte man ein sehr persönliches und diffrenziertes Poträt dieses widerspruchsvollen Menschen erwarten können, das alles enthält, was bisher verschwiegen werden mußte. Doch bis auf einige Tagebuchaufzeichnungen Majakowskis aus der großen Beziehungskrise der beiden von 1925, die Brik seitenweise zitiert, enthält der Band wenig Neues. Statt spannendes Hintergrundmaterial zu liefern, zerfallen die Erinnerungen an eine Aneinanderreihung banaler Details. Man erfährt auf einer faksimilierten Skizze den genauen Standort Majakowskis bei Rezitationen in der Brikschen Wohnung, Einrichtungsgegenstände werden ausführlich beschrieben.
So ruhte der Dichter in einer seiner Wohnungen unter einem „in rosa Plüsch gerahmten Spiegel“, in einer anderen unter einem „Läufer, auf dem eine mit Wolle und Perlen gestickte Jagdszene dargestellt war“. Tisch und Stühle fürs Eßzimmer kauften die Briks übrigens bei „Mosdrews“, doch die Schränke mußten sie anfertigen lassen, „weil die im Handel erhältlichen zu groß waren“. Wen es interessiert, der kann auf Seite 126 auch noch die Form des von Majakowski gestalteten Türschildes begutachten.
Die lyrische Produktion Majakowskis kommentiert sie folgendermaßen: „Er dichtete immer, unentwegt, und in seine Dichtungen flossen seine Empfindungen unvermindert ein.“ Und auch die Inspirationsquelle für eines seiner Gedichte wird enthüllt: „Der sonnige Abendhimmel bot immer ein neues prächtiges Schauspiel, das aber jedesmal unweigerlich damit endete, daß die Sonne hinterm Horizont verschwand. Das ärgerte Majakowski, und er schrieb ein Gedicht darüber.“
Allgemeinplätze wechseln mit Anekdoten, und alles wirkt so unzusammenhängend, als wäre es direkt aus dem Tagebuch abgeschrieben. Buchstärke erreichen ihre Majakowski-Erinnerungen ohnehin nur durch die angehängte willkürliche Auswahl aus seinen Briefen, die in vollständiger Form bereits seit 165 veröffentlicht sind, sowie die Briefwechsel mit Ossip Brik und ihrer Schwester Elsa Triolet, die in den Zusammenhang mit Majakowski nicht so recht passen wollen. Ein überflüssiges Buch, das statt eines neuen Majakowski-Bildes lediglich weihevoll und detailverliebte Reflexionen über ein Dichtergenie bietet und in dem Lilja Brik selbstgefällig ihre Rolle als Dichtermuse zelebriert. Axel Winzer
Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen an Majakowski. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner, Verlag Volk und Welt 1991, 256 Seiten, geb., 36DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen