■ Gorbatschows friedlicher Abgang: Vom Alleinherrscher zum Pensionär
Vom Alleinherrscher zum Pensionär
Seit Monaten erfährt der sowjetische Präsident Gorbatschow im eigenen Land eine Demütigung nach der anderen. Die Augustputschisten wollten ihn kaltstellen und die UdSSR wieder in die Isolation treiben, sein „Befreier“ Boris Jelzin konnte sich den Triumph über den gehaßten Widersacher nicht versagen und führte den aus der Verbannung heimgeholten Präsidenten noch am selben Tag dem Parlament vor wie einen mißratenen Pennäler. Die letzten Wochen haben ihn gänzlich demontiert, doch er gibt nicht nach, will nicht wahrhaben, was er in Bewegung gesetzt hat. Das eigene Volk zeigte zwar Mitleid, aber den Generalsekretär der KPdSU hatte es schon lange nicht mehr geliebt. Die Mehrheit strafte ihn mit Gleichgültigkeit. Gorbatschow wollte das nie verstehen, und darunter hat er gelitten. Obwohl er die Demontage des Sowjetsystems mit der richtigen Erkenntnis einleitete: „Wir brauchen eine Perestroika der Psychologie“, war der Präsident selbst nie ein feinfühliger Psychologe. Dem Volk mißtraute er, und es konsequenterweise ihm. Wenn er jetzt geht, wird es die Früchte, die allerdings auf sich warten lassen, einem anderen zuschreiben. Dahinter verbirgt sich jedoch nur die halbe Wahrheit.
Die Scherben, vor denen die ehemalige Sowjetunion steht, waren nie das Ziel Gorbatschows. Die Entlassung der über hundert Nationen aus dem „Völkergefängnis“ hatte er nie zu seiner Aufgabe erkoren. Die Nationalitätenfrage hat er von Anfang an unterschätzt. Ja, er hat sich dieser Frage mit der Hybris eines Generalsekretärs genähert, die ihre historischen Parallelen nur noch bei Monarchen Shakespearescher Dramen findet. Sie hat ihm das Genick gebrochen. „Wie vor Moskau 1941 oder bei Stalingrad“ wollte er den Zentralstaat verteidigen. Es war sein Waterloo. Obwohl 1985 angetreten, um die stalinistischen Strukturen aufzubrechen und den drohenden Kollaps des Systems aufzuhalten, war sein Freiheitsverständnis eben das eines „Reformators von oben“ — ungeachtet seiner Appelle an das Volk, das ihm zunächst nicht folgte. Dann drehte sich der Spieß um, und aus dem Initiator wurde ein Getriebener. Mit höchstem Widerwillen begegnete Gorbatschow historischen Entwicklungen, die er selbst in Gang gesetzt hatte, die seine Visionen aber um weites übertrafen. Sein Verhältnis zur innerparteilichen Opposition, seine Intrigen, um den Aufstieg Jelzins zu verhindern, seine Blindheit, als er Kretins letztes Jahr in höchste Regierungsämter hievte, und sein Stillhalten, als im Baltikum Panzer rollten. Auch die Geschichte hatte den Präsidenten zu diesem Zeitpunkt überrollt. Dennoch gab er Osteuropa frei. Das machte ihn endgültig zum Haßobjekt und Gefangenen der alten Nomenklatura, der er mit der Entmachtung der Partei ihre Selbstsicherheit entzogen hatte. Im kritischen Winter 1990/91 gestand er: „Ich drehe mich im Kreis.“ Tatsächlich hat er den Entwicklungen seit dem 28. Parteitag im Sommer 90 nur noch hinterhergehechelt.
Doch ohne Gorbatschow sähen Rußland und die Welt heute anders aus. Kein anderer hätte den Systemumbau in Angriff nehmen können. Weder ein Jelzin noch ein Schewardnadse. Für den behutsamen Wandel ab 85 war Gorbatschow wie handgedrechselt. Ein Idealist, der sich auch aufs Kriechen verstand. Zudem beherrschte er die Taktiken des Kaderkarussels so virtuos wie kein anderer. 30 Jahre Parteierfahrungen taten das Ihrige. Seine Taktik war auch Schauspiel, seine endgültigen Memoiren werden davon Zeugnis ablegen, wie viele der ehemaligen Genossen er mit dem Gefühl der Sicherheit hat über die Klinge springen lassen. Der Idealismus war es, sein Festhalten an der sozialistischen Utopie, die ihn in den Sessel des Generalsekretärs beförderten. Dieser Idealismus ließ ihn andererseits im Glauben, das marode System könne sich von innen erneuern. Er wollte nicht erkennen, daß Modernisierung einer eigenen Logik folgt, die sich nicht am Reißbrett entwerfen läßt. Darin blieb er ein Leninist, der den Völkern Lernfähigkeit absprach. Ein Sozialingenieur. Für Gorbatschows charakterliche Stärke spricht die Beharrlichkeit, mit der er sich über die korrupte Breschnew- Zeit brachte. Wie viele seiner Weggenossen hatte er seine politische Sozialisation während der Chruschtschowschen Tauwetter-Periode genossen, deren zögernde Entstalinisierung sie damals selbst kritisierten. Sie bauten auf die Möglichkeit eines „nichtdeformierten Sozialismus“, was ihnen während der Breschnew-Zeit den Zugang zu den Machtzirkeln versperrte. Um so verständlicher erscheint Gorbatschows sozialistisches Credo, das er selbst nach der Palastrevolution seiner Paladine im August noch bemühte. Es hat etwas tragisch Elegisches an sich, das ihm auch den Blick dafür trübte, zu erkennen, wie weit die Gesellschaft sich bereits verändert hatte. Während der Parteiherrschaft gehörte seine Fähigkeit, Kompromisse zu schließen und zu taktieren, zur conditio sine qua non, um überhaupt etwas in dem ritualisierten System in Bewegung zu setzen. Mit Finten und Volten trickste er den Widerstand aus und eröffnete eine Geschichtsrevision, die der Partei und ihren Fürsten jegliche Legitimation entzog. Nur hatte er sich der Täuschung hingegeben, die sozialistische Idee werde das alles gestärkt überleben.
Zögern war eine seiner Eigenschaften
Ein Jelzin hätte dort nichts bewegen können, sich lediglich das Genick gebrochen. Daher sind beide siamesische Zwillinge, keiner von beiden wird vor der Geschichte besser dastehen. Vielleicht mag es ein Hinweis darauf sein: Gorbatschow hat sich Individualität und Überzeugung trotz einer beschämenden Wirklichkeit über Jahre erhalten. Es zeugt von einer gewissen Neigung zu Abschottung und Isolation, ja zu Träumerei, die ihn andererseits im Glauben gelassen hat, sein Navigationsgeschick werde ihn auch um die nächsten Klippen schiffen. Die Partei hat er entmachtet und der Gesellschaft ein Stück Selbstverwaltung überantwortet. So wollte er es ursprünglich auch. Nur hat er die Dynamik, die daraus hervorging, nicht begriffen. Schließlich war er der Pantokrator, und hierin blieb er Kommunist. Er wollte den Kommunismus reformieren und hat ihn schließlich vor den Augen der Welt entblößt. Zögern war eine seiner Eigenschaften, häufig machte er sich erst im nachhinein zum Fürsprecher einer längst vollzogenen Entwicklung. Das beweist, die Perestroika folgte keinem Programm. Was dabei herauskam, war nicht intendiert. Insgeheim wird er es bedauern. Klaus-Helge Donath
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