piwik no script img

DIE ALTE ERDEDie East-Side-Story des Menschen

Vor etwa acht Millionen Jahren senkte sich der Rift-Graben, quer durch Ostafrika, die östlich davon gelegene Landschaft hob sich und brachte ganz andere Entwicklungen unter den gemeinsamen Vorfahren von Primaten und Menschen zustande als westlich des Grabens. In Ostafrika entstand der Mensch, lautet die Hypothese. Seitdem hat die immer schnellere Erfindung von neuen Werkzeugen dazu geführt, daß es keiner biologischen Evolution mehr bedarf. An ihre Stelle sind technologische und kulturelle Evolution etretn.  ■ VON YVES COPPENS

Vor acht Millionen Jahren hat sich unsere Linie für immer vom Tierreich getrennt. Dieser Zeitpunkt wird als Ursprung unserer Familie, der „Hominiden“ oder Menschenartigen, definiert. Das geschah in Ostafrika, denn die Überreste der frühesten Hominiden wurden ausnahmslos dort gefunden, und der älteste Fund ist auf über sieben Millionen Jahre datiert.

Die Molekularbiologie hat die Zellen der heutigen Primaten erforscht und sie nach ihrer Komplexität geordnet. Die Wissenschaftler gingen davon aus, daß die Spannbreite bei den heute lebenden Primaten die Entwicklung in der Zeit widerspiegeln könnte. Danach haben sie eine molekulare Uhr konstruiert, die zwei Ergebnisse zeigt: Von allen Primaten stehen dem Menschen die großen afrikanischen Affen – Schimpansen und Gorillas – eindeutig am nächsten. Die „Distanz“, die uns von ihnen trennt, also der Unterschied zwischen Affen und Menschen, läßt darauf schließen, daß sich die beiden Zweige vor über sieben Millionen Jahren auseinander entwickelt haben.

Dieses erste Datum ist wesentlich: Es besagt, daß wir seit etwa acht Millionen Jahren unsere eigene Geschichte leben, die wir mit niemandem teilen. Anders gesagt, die Geschichte unserer Familie und ihrer Unabhängigkeit ist die Geschichte der vergangenen acht Millionen Jahre. Sie erstreckt sich vom Ende des Miozäns über das Pliozän, das Pleistozän und das Holozän.

Warum ist diese neue Familie entstanden, warum an diesem Ort, warum zu diesem Zeitpunkt? Die Geschichte des Lebens basiert auf Ereignissen. Es gibt im Prinzip keinen Grund dafür, daß sich eine lebende Form, die sich in einem stabilen Milieu im Gleichgewicht befindet, verändert. Wenn sich hingegen das Milieu ändert, wird die Harmonie gestört; um in dem neuen Milieu ein neues Gleichgewicht zu finden, muß sich die lebende Form ihrerseits verändern (durch Mutationen, die als zufallsbedingt bezeichnet werden und von denen nur die selektiert werden, die sich als vorteilhaft erweisen, oder durch jeden anderen Anpassungsprozeß an die neue Umgebung). Diese Veränderung wird als Evolution bezeichnet – der Name ist schlecht gewählt, denn er läßt diesen Prozeß als unvermeidlich erscheinen.

Wenn ein Ereignis eine neue Form zur Folge hat, dann regt das Auftreten der neuen Form dazu an, nach diesem Ereignis zu forschen. Das habe ich im Fall der Hominiden getan. Dabei bin ich zunächst auf einen offensichtlichen Widerspruch gestoßen. Schimpansen, Gorillas und Menschen sind sich extrem ähnlich, darin stimmen die Forschungen der Biologie, Zytogenetik, Anatomie, Physiologie, Embryologie und Ethologie überein. Nach einem Viertel Jahrhundert intensiver Forschungen in Ostafrika haben wir 200.000 Fossilien von acht Millionen Jahre alten Wirbeltieren gefunden, darunter befinden sich rund 2.000 Knochenfunde von vormenschlichen und menschlichen Hominiden. Vom Knochen oder Zahn eines Gorillas oder eines Schimpansen oder ihrer Vorläufer hingegen wurde nicht das kleinste Fragment gefunden.

Aufbauend auf diesen Fakten habe ich im Jahr 1983 folgendes Modell vorgestellt: Schimpansen, Gorillas und Menschen sind durchaus verwandt. Es wurden jedoch keine gemeinsamen Spuren gefunden, weil sie niemals zusammengelebt haben. Vermutlich haben ihre gemeinsamen Vorfahren dort gelebt, in einer Landschaft aus Wäldern und bewaldeten Savannen, wie sie sich vor zehn Millionen Jahren über ganz Äquatorialafrika hinzog, vom Atlantischen Ozean bis zum Indischen Ozean.

Vor etwa acht Millionen Jahren verschob sich die Erdkruste. Es kam zu einer erneuten Senkung des Rift, dieser tiefen Grabenzone, die sich wie eine Narbe durch Ostafrika zieht, zur Öffnung von Rotem Meer und Nahem Osten, gleichzeitig erhoben sich der westliche Rand des Grabens (es bildete sich der 5.119 Meter hohe Vulkan Ruwenzori) und das ostafrikanische Plateau. Zu dieser Zeit entstand auch das Hochland von Tibet. Im nordwestlichen Viertel des Indischen Ozeans, den jetzt im Norden und im Westen eine Wand begrenzte, bildete sich daraufhin die jahreszeitliche Ordnung der Monsunregen. Im Westen des Rift, zwischen Atlantischem Ozean und der Grabenzone, hielten die Niederschläge genauso häufig und regelmäßig an wie vor den tektonischen Veränderungen. Im Osten hingegen, auf dem 2.000 bis 3.000 Meter hohen Plateau im Schatten der Bergkette, die an das Rift grenzt und immer noch wächst (die Berge sind heute über 4.000 Meter hoch), wurden die Regenfälle unregelmäßig, wodurch der Wald abnahm. Die Nachkommen der gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen, Gorillas und Menschen waren also einer ganz unterschiedlichen Umwelt ausgesetzt, je nachdem ob sie im Westen oder im Osten des Rift Valley lebten. Dies führte dazu, daß sie sich völlig unterschiedlich entwickelten.

Auf der einen Seite mußten sie sich einer mit Bäumen und Büschen bewachsenen Umwelt anpassen; dort bewährte sich eine schwingkletternde Fortbewegung mit nur gelegentlichem Aufrichten. Auf der anderen Seite begünstigte das offene Gelände die Fortbewegung auf zwei Beinen, die Fähigkeit zum Klettern bildete sich zurück. Im Westen entwickelten sich die Nachkommen der gemeinsamen Vorfahren zu den Lebewesen, die wir heute Gorillas und Schimpansen nennen, die Nachkommen im Osten bezeichnen wir als Menschen. Dieses Modell habe ich die East Side Story genannt.

Durch eine Kapriole der Erde und ihre ökologischen Folgen wurde also unsere Familie in dieser schmalen tropischen Wiege geboren, eingeengt zwischen dem Roten Meer, dem Indischen Ozean und der ostafrikanischen Seenkette von Albertsee, Eduardsee und Tanganjikasee. In diesem wunderbaren Garten gedieh der Mensch. Dabei lassen sich zwei Etappen unterscheiden, die erste kann man als prähumane Periode bezeichnen, sie erstreckte sich über sieben Millionen Jahre; die zweite, humane Periode, umfaßt drei Millionen Jahre. Die beiden Perioden überschnitten sich und existierten eine Zeitlang nebeneinander.

Die Urmenschen, denen man den seltsamen Namen Australopithecine (griechisch für Affen aus dem Süden) gegeben hat, tauchen also in Ostafrika auf. Dort entwickeln und diversifizieren sie sich. Vor drei Millionen Jahren beginnen sie, ihr Territorium auf den gesamten Südosten Afrikas auszudehnen. Die Welt der Australopithecinen ist komplizierter als allgemein gedacht wird. Sie besteht aus einer Anzahl von Arten oder unterschiedlicher Gattungen, die aufeinanderfolgen oder sich parallel in geographisch getrennten Regionen (im Osten und Süden Afrikas) entwickeln. Im gleichen Zeitraum lassen sich leichte Veränderungen des Gehirns, des Gebisses und sogar der Fortbewegung ausmachen.

Zur Beschreibung dieses Urmenschen haben wir aus Platzgründen nur eine aus den sechs oder sieben Spezies ausgewählt. Wir haben weder eine der frühesten Arten gewählt noch eine der jüngsten, die schon sehr spezialisiert sind, sondern eine Spezies im Herzen der Entwicklung dieser Gruppe, mit einem Alter zwischen drei und fünf Millionen Jahren. Es handelt sich um die Spezies Afarensis, an deren Benennung ich 1978 beteiligt war, und die am besten durch ein kleines, fragmentarisches Skelett illustriert wird, das 1974 im äthiopischen Afar entdeckt wurde. Dieses berühmte Skelett wurde Lucy genannt (nach dem Beatles-Lied „Lucy in the sky with diamonds“).

Lucy mißt etwa ein Meter bis ein Meter zwanzig, ihr Gewicht betrug schätzungsweise 20 bis 25 Kilogramm. Die unteren Gliedmaßen sind verhältnismäßig kurz, die oberen Glieder eher lang. Sie hat einen kleinen Kopf mit einem Gehirnvolumen von 340 Kubikzentimetern, dessen Form interessante Merkmale aufweist: Entwicklung der Höhe des Gehirns über dem Kleinhirn, Entwicklung von Scheitel-, Schläfen- und Stirnlappen und ihrer Gehirnwindungen auf Kosten des Hinterhauptslappens. Ihr Gesicht ist massig mit einem vorspringenden Oberkiefer. Das Gebiß ist kräftig, weist aber viele menschliche Zeichen auf: vertikal stehende Schneidezähne, kleine Eckzähne, die ersten unteren Prämolaren, kräftige Prämolaren und Backenzähne, dicker Zahnschmelz. Abgebröckelte Stücke und Rillen auf den Schneidezähnen, ein stark abgeschliffenes Relief und kleine, vom Gebrauch polierte Stellen auf den Zähnen lassen auf eine Ernährung auf der Basis von Körnern und Wurzelknollen, jungen Trieben und zarten Blättern schließen. Die Wirbelsäule ist S-förmig gebogen wie die unsere, dabei jedoch weiter auseinandergezogen. Die Beckenform entspricht ebenfalls der eines Zweifüßers. Das Becken ist nicht sehr tief, jedoch so breit, daß das bipede Gehen ein Rollen der Hüften und der Schultern um die Achse der Wirbelsäule erforderte (mindestens 40 Grad auf jeder Seite anstelle von vier Grad beim Menschen). Die unteren Gliedmaßen haben kurze Oberschenkelknochen, einen langen und schlanken Schenkelhals, ein Kniegelenk mit großer Drehweite, ein kurzes Schienbein, ein Knöchelgelenk, das genauso instabil ist wie das Kniegelenk, einen breiten, kurzen und flachen Fuß, der mit der Außenkante auftritt, einen großen abstehenden Zeh, der sich den anderen Zehen mit gekrümmten Gliedern entgegenstellen kann. Die oberen Gliedmaßen weisen perfekt eingepaßte Schulter-, Ellbogen- und Handgelenke auf. Die Streck- und Beugemuskeln sind stark entwickelt.

Wir haben also eine seltsame kleine Person vor uns, die eine recht unsichere Bipedie erreicht hat, ihre Zweifüßigkeit jedoch mit einem noch sehr aktiven „Arbolicolismus“ verbindet. So erklärt sich die sonderbare Verbindung von Wirbelsäule und Becken eines aufgerichteten Wesens mit den Extremitäten eines Kletterers, also mit gelenkigen unteren und stabilen oberen Gliedmaßen.

In Ablagerungen von über drei Millionen Jahren wurden kleine Splitter gefunden, von denen manche gefeilt sind. Dabei handelt es sich unbestreitbar um Geräte. Diese Funde lassen mich schon seit Jahren denken, daß dieser Urmensch der erste Hersteller von Werkzeug ist. Sollte sich diese Zuordnung bestätigen, so würde das bedeuten: Geräte gab es schon vor dem Menschen, und dieses Werkzeug ist die Schöpfung eines Hominiden, dessen Hände erst teilweise von der Aufgabe der Fortbewegung freigesetzt sind.

Vor etwa drei Millionen Jahren treten – erneut in Ostafrika – in einer einzigen Gattung die ersten menschlichen Wesen auf. Sie sind etwas größer als ihre Vorläufer, etwas schwerer, bessere Zweifüßer, schlechtere Kletterer, ausgestattet mit einem größeren Gehirn und dem Gebiß eines Allesfressers: das ist der Mensch.

Warum ist diese neue Gattung aufgetaucht? Warum an diesem Ort, warum zu diesem Zeitpunkt? Die Paleoklimatologen registrieren vor etwas mehr als drei Millionen Jahren ein allgemeines Erkalten der Erde, das etwa 900.000 Jahre anhält. In Äthiopien, im Tal des Flusses Omo, wo ich zehn Jahre lang gegraben habe, konnte ich diese neue klimatische Krise leicht nachweisen. Hier wirkte sie sich durch erneutes Austrocknen der Region aus. Unter allen wichtigen ostafrikanischen Fundstätten wie Olduvai und Laetoli in Tansania, Turkana in Kenia, Afar und Omo in Äthiopien illustrieren nur die Ablagerungen in Omo diese so wichtige Periode.

Es handelt sich um eine höchst umfangreiche Fundstätte, da die Sedimente über tausend Meter stark sind, gefüllt mit Fossilien aller Art (über fünfzig Tonnen habe ich davon zu Studienzwecken nach Paris bringen lassen). Diese Ablagerungen zeigen uns, wie sich innerhalb dieses Zeitabschnitts von 900.000 Jahren eine Landschaft, ihre Bewohner und der Boden, auf dem sie lebten, vollständig veränderten. Wo vor drei Millionen Jahren eine bewaldete Savanne mit Inseln von tropischen Bäumen (Antrocaryon) war, stand vor zwei Millionen Jahren eine sehr lichte Savanne, wo es nur noch entlang der Flüsse einige bewaldete Zonen (Ficus, Myrianthoxylon) gab. Die Zahl des Baumpollens im Verhältnis zum Gräserpollen kann als bedeutender Hinweis gewertet werden: Dieses Verhältnis veränderte sich von 0,4 vor drei Millionen Jahren zu 0,01 vor zwei Millionen Jahren.

Die Höhe der Backenzähne des Elefanten verdreifachte sich infolge dieser Krise (denn die Zähne werden beim Kauen von Gräsern weitaus stärker abgenutzt als beim Essen von Blättern). Bei den Schweinen verdreifachte sich ebenfalls die Länge der hinteren Backenzähne und die Zahl der Zahnhöcker. Buschantilopen (Tragelaphen, Büffel) wichen Steppenantilopen (Alcephale, Gazellen), auf den Bäumen lebende Nagetiere wurden von wühlenden Nagern ersetzt. In dieser Wendezeit entwickelte sich das Pferd, ein besserer Läufer als sein Vorgänger Hipparion, und das Warzenschwein, ein besserer Grasverwerter als sein Vorläufer Metridiocher. Es tauchte der robuste Australopithecus auf, Nußknackermensch genannt wegen seiner großen Prämolaren und Backenzähne. Und es erschien der Mensch, der auch als „Opportunist“ bezeichnet wird, weil seine Nahrung vielfältiger wurde.

Der Australopithecus ist älter als der Mensch, anatomisch steht er von allen Menschenartigen (Hominiden) dem Menschen am nächsten, geografisch lebte er in derselben Region. Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, daß der Australopithecus zu den Vorläufern des Menschen zählt.

Ich habe dieses Ereignis als „Erscheinen des (H)omo“ bezeichnet, das ist ein Wortspiel mit den Namen „Homo“ und „Omo“, nach dem Fluß, an dessen Ufer erstmals die mutmaßlichen Gründe für die Selektion unserer Gattung aufgezeigt werden konnten. Unsere Familie fand also zwei Lösungen auf die Klimakrise vor drei Millionen Jahren: Zum einen eine urmenschliche Form mit einem kräftigen Körper (1,50 Meter, 50 Kilo), einem auf zähe vegetarische Nahrung ausgerichteten Gebiß und einem kleinen Hirnschädel (500 Kubikzentimeter). Zum anderen die erste menschliche Form, Homo habilis, mit einem deutlich entwickelten Gehirn (800 Kubikzentimeter), dem Gebiß eines Allesfressers, jedoch mit schmächtigem Körper (1,30 Meter, 30 Kilo).

Der Mensch wurde demnach durch eine Erkaltung der Erde und ihre klimatischen Folgen in seiner tropischen Wiege geboren, dieser tiefgrünen oder gelben Fläche, auf deren Höhen dornige Dolden wachsen und in deren Tälern Palmen und Feigenbäume gedeihen. Dieser erste Mensch entwickelt Werkzeuge aus Stein und Knochen, beherbergt seine Familie in Lagern und teilt dort die Nahrung, die er zuvor durch Jagen oder Sammeln erbeutet hat. Er baut die ersten Hütten, entwickelt Gefühle und äußert sie in Sprache. Durch das verbesserte Zentrale Nervensystem entwickelt sich Bewußtsein, die verbesserte Bipedie und die erweiterten Ernährungsgewohnheiten erhöhen seine Mobilität. Das Verhalten des neuen Hominiden ist dadurch entscheidend verändert. Mit der Reflexion entwickelt sich die Neugier und erstmals beginnt der Mensch, sein Territorium zu erweitern, ein Unterfangen, das er schließlich rund um die Erde ausführt und in Zukunft gewiß durch das ganze Universum ...

Der Mensch wurde also wahrscheinlich in Ostafrika geboren, weil eine bedeutende Klimaänderung eine Selektion bedingte. Er setzt seinen Weg stetig fort: eine biologische Mikroevolution führt ihn durch verschiedene Stadien, die fälschlicherweise „Arten“ (Spezies) genannt wurden, vom Homo habilis über den Homo erectus zum Homo sapiens bis zur heutigen Form, dem Homo sapiens sapiens. Körpergröße und Gewicht nahmen zu, sein Schädel entwickelte sich, die Zähne wurden kleiner, Skelett und Muskulatur graziler, im aufrechten Gang entwickelte er ein außerordentliches dynamisches Gleichgewicht. Vor allem aber gestaltete der Mensch in den drei Millionen Jahren seiner Geschichte auf außergewöhnliche Weise die neue Umwelt, die sein Vorgänger erfunden hatte: das kulturelle Milieu. Vom materiellen Werkzeug, das gefunden wurde, kann man auf sein intellektuelles Werkzeug schließen und auf seine geistigen und sittlichen Fähigkeiten. Die zunehmende Wirksamkeit und Vielfalt dieser Werkzeuge beweist eine außerordentliche technologische Entwicklung.

André Leroi-Gourhan kam auf die Idee, diesen Fortschritt anhand der in verschiedenen Epochen bearbeiteten Steine zu quantifizieren. Er wog die Steine und verglich die Größe der behauenen Stellen je Gesamtmasse. So ermittelte er, daß vor zwei Millionen Jahren bei einem Kilo bearbeiteter Steine Spuren von insgesamt zehn Zentimetern erreicht wurden. Vor 500.000 Jahren betrugen die behauenen Kanten bei einem Kilo Steine 40 Zentimeter, vor 50.000 Jahren 200 Zentimer und vor 20.000 Jahren 2.000 Zentimeter (20 Meter).Dieser beeindruckende Fortschritt kann nur analysiert werden, wenn man die Dauer der einzelnen Etappen berücksichtigt und genau untersucht, in welchem Stadium sie erreicht wurden. Diese Untersuchung ergab eine exponentielle Beschleunigung der technischen Leistungsfähigkeit. Die bearbeiteten Steine wurden immer kleiner, sie waren also mit mehr Geschick bearbeitet worden, und man brauchte daher immer mehr Steine, um die Menge von einem Kilo zu erreichen. Dennoch betrug der Wirkungsgrad über einen Zeitraum von weitaus mehr als einer Million Jahre nie mehr als zehn Zentimeter pro Kilo. Innerhalb der nächsten Phase von etwas mehr als einer Million Jahre vervierfachte sich die Länge der behauenen Kanten je Kilo – mehr jedoch nicht. Erst in den letzten mehreren hunderttausend Jahren beschleunigt sich der Fortschritt im Rekord: die Schneide wird verfünfacht, dann verzehnfacht und ist jetzt 200mal größer als bei der ersten Messung.

Die Suche nach dem handwerklichen Schöpfer dieser Instrumente ist noch sehr viel aufschlußreicher. Der Homo habilis (der erste Mensch) ist also der Urheber dieses Gewerbes, bei dem ein Kilo Steine mit Schneiden bis zu zehn Zentimeter bearbeitet wurden. Doch anders als erwartet erweist sich der erste Homo erectus (der zweite Mensch) nicht als geschickter. Erst der „jüngere“ Homo erectus nimmt eine erneute Schwelle und schafft es, die bearbeitete Fläche pro Kilo von zehn auf vierzig Zentimeter zu erweitern.

Der Homo sapiens (der dritte Mensch) beweist erneut, daß die biologische Evolution schneller vonstatten geht als der technologische Fortschritt. Die ersten Vertreter des Homo sapiens waren nicht fähiger als ihre unmittelbaren Vorläufer, erst spätere Vertreter dieses Homo sapiens schafften den enormen Durchbruch zu 200 Zentimeter Schneide je Kilo Steine. Und es war ebenfalls der Homo sapiens, der diesen Rekord noch verzehnfachte, bevor er dem Jetztmenschen wich, dem Homo sapiens sapiens, der zeichnen, malen und bildhauern lernte und vor rund 10.000 Jahren ein Kilo Steine mit Schnitten von einer Länge von insgesamt 7.000 Zentimetern bearbeitete. Der Jetztmensch erfand Landwirtschaft, Viehzucht und die Schrift, entdeckte Gold, Kupfer, Zinn, Eisen und ihren Nutzen, den Buchdruck, Elektrizität und Kernenergie, Informatik und vieles andere mehr. Die Lektüre dieser Zahlen ist aufschlußreich, denn sie ergibt: Über einen Zeitraum von 2,5 Millionen Jahren oder mehr hatte die biologische Evolution Vorrang und verlief schneller als die technologische und kulturelle Evolution. Seit einigen hunderttausend Jahren oder weniger verläuft die Entwicklung umgekehrt: Die kulturelle Evolution ist vorrangig und verläuft schneller als die biologische, die sich verlangsamt hat oder sogar gestoppt wurde.

Das kulturelle Milieu, das ausschließlich von den Hominiden geschaffen wurde, war zunächst eher unbedeutend. Später entwickelte es sich derart außergewöhnlich, daß es uns seit einigen hundert Millionen Jahren völlig umgibt und anstelle unseres Körpers auf die Herausforderungen der Umwelt reagiert. Vor acht Millionen Jahren erlitt der Hominide die Transformationen der ihn umgebenden Natur, vor drei Millionen Jahren geschah dies dem Menschen. Diese Veränderungen waren Ursache für die Selektion, sprich für das Auftauchen und die Entwicklung des Hominiden und des Menschen. Im Schatten der natürlichen Umwelt entstand im Laufe dieser Entwicklung dieses andere seltsame Milieu, die kulturelle Umwelt, und auch diese entwickelte sich nach und nach. Der Mensch hat diese Entwicklung vorangetrieben, zuerst ganz langsam und dann auf ungezügelte Weise, soweit, daß er seinerseits die biologische Entwicklung beeinflußte. Dieser Übergang vom rein instinktiven Tier zum Menschen mit überwiegend bewußtem Verhalten und viel weniger Instinkten behinderte den naturalistischen Teil der Reflexion. Schließlich war der Mensch – Wirbeltier, Säugetier und unzweifelbar Primat –, ein seltsamer Vertreter dieses Zweigs, dieser Klasse und dieser Ordnung, hatte er doch erstmalig in der Geschichte des Lebens die Idee, nach seiner Herkunft zu fragen.

Die Paläoanthropologie und die Urgeschichte haben die unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der Entwicklung von Biologie und Kultur bewiesen. So haben sie den Beginn einer Antwort, wie und wann diese Verschiebung, diese Inversion vom Tier zum Menschen stattfand. Die Errungenschaften der Kultur wachsen wie Lawinen, und der Mensch muß immer mehr lernen. Die Folgen dieses Wissens sind einfach und wunderbar. Die Bedeutung des Reflexes hat nachgelassen, die der Reflexion steigt. Der Mensch hat nach und nach seine Freiheit errungen, seine Verantwortlichkeit, seine Würde.

Yves Coppens hat lange in Ostafrika nach Fossilien gegraben und dabei unsere Vorfahrin „Lucy“ entdeckt und benannt. Er leitet die anthropologische Abteilung des Musee d Homme in Paris.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen