: Alte Geschichten
I
Jeden Morgen gleicht das Aufräumen des Zimmers
der sorgsamen Präparation einer toten Landschaft
Das Radio kündet: Es ist Krieg
Gleich nebenan
Staub rieselt von dem Porträt einer Frau
Ihre falschen Zähne im Stil der neuen Zeit
Bringen die Fragmente eines Skeletts an den Tag
Ein ganzes Jahrhundert befriedigte lächelnd sich selbst
Auch die Sonne ist gealtert, schnurgerade rammt sie die Wand
Mit gleichmütigem Blick für die Welt
Das gestreifte Nachthemd am Kopfende
Herbergt die Stimme von Vögeln, die Flecken von Schnaps
Jemand beginnt zu grüßen
Jemand beginnt den Rasen zu mähen
Punkt neun Uhr kommt das Frühstück
Wer wird uns heute verkaufen?
II
Besagtes Kind kam in einem Stall zur Welt
Unter kaltem Mond an verlassenem Meeresgrund
Von drei sterbenden Alten
Grimmig beglückwünscht
Die vier Jahreszeiten sind nur eine Drehtür
Leichen sanken zwischen Korallen auf den Grund den
Fischen zur Mast
Aus und ein im Supermarkt willst du es den Kartoffeln nachtun
Mit ihrem barschen Hüsteln, als seien sie Heilige
Du hast dich wundgelesen an der abenteuerlichen Fabel
vom Kuhhandel
Mit einem Zahnstocher hast du dich gesäubert
So viele Male vor aller Augen auf Sand gebaut
Bist du nun kluggeworden
Hilf anderen aus der Wüste heraus
Laß den Geist im Himmel beerdigt sein
Auf dem Meeresgrund gibt es eine Glocke, aber keine Zeit
Es gibt dich, aber keine Menschen
III
Mit dreißig ist die Tür zur Narretei aufgestoßen
Ein anderer Weg wartet auf mich
Straßenlaternen und Dämmerung ringsum foltern
Die Schatten, ein kleines Stück Wüste
Dreißig Jahre sind wie ein Teller: ölig, doch ohne Glanz
Fenster verhören wie eh und je
Ausgemergelte Leiber nach der Schicht
Das fleischfressende Glas hat sich den Hunger bewahrt
Gesichter beißen
Unter fadem Haar eine fade Leere
Nach der Gleichschaltung modisch schrieb sich
Die Farbe des Todes mit dem Leben ins Formular
Niemand geht den anderen Weg
Nicht einmal Finger legen sich auf aussätzige Fluren
Wieder daheim nur der eine Gedanke
das Bett ein allerletztes Wunder
IV
Skelette, die verstohlen auf Treppen lungern, stürzen
ins Dunkel
Fern, auf Teppichen einsam zu sein
Haben sich die Fußspuren eines Jahrhunderts
Mit demselben Gewitter im Ohr
Einander die Haut geschält
Tropfen für Tropfen sickert die Nacht ins Fleisch
Den Jahresringen des Sommers entweicht Gift
Vögel sind in Schlüssellöcher eingesperrt
Doch ein Traum stößt eine angelehnte Tür auf
Die Toten leben
In dunklen Winkeln, gestern noch diskutierte ein jeder
In seiner Zunge wortreich den Jüngsten Tag
Ein Spiegel mit dem Licht des Mondes ist wie ein altes Haus
Doch wer kam und wer ging, weiß niemand mehr
In den Leibern stehen die Schatten still
Das Gewitter zwängt sich ins Zimmer
Ein Jahrhundert in den Augenblick meines Todes
V
Bei deinem Erwachen steht der Himmel erstarrt
Die Notizen eines Lebens sind mit den Sternen auf und davon
In den Gelenken haust der Wind
Seine Stimme reißt an dir, als wär's, irregeworden,
ein unbeschriebenes Blatt
Namen, in der Erinnerung daheim, haben kein Auge für dich
Zwei Fensterläden, einmal nah,
Schlagen in deinem Gesicht isoliert einen zwiefachen
Frühling auf
Alle Distanz, kündet eine alte Sonne, ist schrankenlos
Am Ende deines Atems machen sich mit ihrem kleinen Mut
die Toten breit
Wer der Haft entfloh, wechselt aufs neue seine Adresse
Und das unnahbare Grün der Bäume seine Zeiten
Pechschwarz ist alles tödliche Blau
Die alte Sonne stürzt in die Augen, feucht von Maden
Niemand weilt hier, du bist
An eine Geschichte genagelt, die niemand erzählt
Täglich wiederauferstanden befleckst du den lichten Tag
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