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Gesammelte Zersetzungen der Stasi

■ In der Umweltbibliothek wurde vorgestern abend das »Matthias-Domaschk-Archiv« mit Stasi-Materialien über die DDR-Opposition eröffnet/ Gerd Poppe: Die eine Hälfte meiner Vergangenheit war echt, die andere war manipuliert.

Prenzlauer Berg. »Größte Aufmerksamkeit ist der Treffkultur zu widmen«, mahnt ein Zeigefinger in einem alten Stasi-Schulungspapier. Zwei Besucherinnen des vorgestern abend in der Umweltbibliothek eröffneten Matthias-Domaschk-Archivs halten den Aufsatz »Die konspirative Wohnung, eine Voraussetzung für die qualifizierte Zusammenarbeit mit dem IM« in den Händen und amüsieren sich über die Bürokratenlyrik des banalen Pathos. Vor den Regalen mit rund 15.000 Blatt Dokumenten staut sich die Treffkultur der einstigen DDR-Rebellen. Manche blättern in Berichten informeller Mitarbeiter oder im »Operativen Vorgang Umweltbibliothek«, die, 1986 als ein herausragender Versammlungsort für DDR- Oppositionelle gegründet, ein Jahr später von der Stasi überfallen wurde. Gerd Poppe ist gekommen, Ingrid Köppe, Rüdiger Rosenthal, Reinhard Schult und wie sie alle heißen. Ihre Wiederbegegnung mit der eigenen Vergangenheit in den Stasi- Akten, zu finden vor allem in der Gauck-Behörde, aber auch hier, verläuft in Schockwellen zwischen Belustigung und Grauen.

An das Grauen erinnert auch der Name des Matthias-Domaschk-Archivs, in dem von Bürgerkomitees gesammelte Aktenkopien und Bücher aus dem Müllcontainer des Stasi-Hauptquartiers sowie illegale Flugblätter und Zeitschriften der ostdeutschen Basisbewegung zu finden sind. »Matz« Domaschk, ein junger Aktivist der anarchistisch eingefärbten Friedensbewegung von Jena, kam unter nie geklärten Umständen im April 1981 in einer Stasi-Zelle in Gera ums Leben. »Er wurde ermordet«, glauben die Leute von der Umweltbibliothek. »Daß er sich in der Zelle am eigenen Hemd erhängt hat, wie die Stasi nachher verbreitete, ist ein Unding«, sagt Gerold Hildebrand, einer der neun ABM-Mitarbeiter. Von daher ist es den Menschen in der Umweltbibliothek ein Anliegen, mit dem neu aufgebauten Archiv »die blutige Tradition der dogmatischen Kommunisten« und die Arbeitsweise des MfS zu dokumentieren, durch die sich »Hinweise und Rückschlüsse« auch auf andere Geheimdienste in Ost und West gewinnen ließen. Sie hoffen dabei auf die tätige Mitarbeit von Betroffenen, die ihre Akten zur Verfügung stellen und damit das Herstellen von »Querverbindungen« erlauben. Allerdings: »Es soll hier niemand denken, daß er hier die Gauck-Behörde vorfindet, wo er Anträge abgeben kann«, ermahnt einer der Mitarbeiter die Versammelten. Dennoch sieht die zitierte Behörde das neue Archiv mit Wohlwollen, Gaucks Pressesprecher David Gill übermittelt »herzliche Grüße vom Chef« und hofft, »daß wir bald Materialien zur Verfügung stellen können«.

Wolfgang Rüddenklau, bärtiger Mitbegründer der Umweltbibliothek, hat ebenfalls schon fleißiges Aktenstudium betrieben. Zur Feier des Tages verliest er einige Passagen aus seinem demnächst im Basisdruck-Verlag erscheinenden Buch Störenfriede über die Oppositionsbewegung und die Gegenaktivitäten der Stasi in den achtziger Jahren. Da ist es denn doch wieder, das Lachen, als er einen der Berichte über die versuchte Unterwanderung der Umweltbibliothek zitiert: »Viele Genossen verfügen noch nicht über genügend Wissen, um dort bestehen zu können.«

Gerd Poppe, dem Bundestagsabgeordneten des Bündnis 90, ist indes nach dem vierten Tag intensiven Aktenstudiums in der Gauck-Behörde das Lachen vergangen. »Obwohl wir uns das meiste gedacht haben«, sagt er mit blasser Miene, »ist es brutal und erschreckend und finster, wenn man vor sich sieht, wie weit das in den persönlichen Bereich ging«. Allein in den Akten zu seiner Person tummeln sich 60 Informelle Mitarbeiter, die zum Teil »noch nach Toresschluß, Ende November 1989, eifrig gearbeitet haben. Der letzte Bericht von Ibrahim Böhme zum Beispiel kam eine Woche vor der Gründung der Sozialdemokratischen Partei« am 7. Oktober 1989. Sascha Anderson habe sich »um alles in seinem Umfeld gekümmert« und IM-Berichte über Lesungen bei ihm zu Hause geliefert.

Am schlimmsten aber sei die Lektüre der »Maßnahmepläne« gewesen, die der Geheimdienst gegen ihn und seine Ehefrau entworfen hätte. »Es soll der berufliche Mißerfolg organisiert werden«, zitiert Gerd Poppe aus dem Gedächtnis, und »mögliche Konflikte zwischen mir und meiner Frau sollten geschürt werden, indem man ihr einen Studienplatz anbietet. Meiner erwachsenen Tochter sollte für die Veröffentlichung ihrer Kurzprosa eine Seite in der FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘ angeboten werden, damit ich auf Distanz zu ihr gehe.« Eine »Kontaktperson« der Staatssicherheit wurde gar »in fünf Gesprächen auf einen Intimkontakt zu meiner Frau vorbereitet«. Der Plan scheiterte schließlich, obwohl die Theaterkarten schon gekauft waren...

Gerd Poppe sieht sich nun gezwungen, seine ganze Vergangenheit »neu zu bewerten: »Die eine Hälfte war echt, die andere manipuliert.« Damit ist er sicher nicht der einzige. Ute Scheub

Das Matthias-Domaschk-Archiv und die Umweltbibliothek in der Schliemannstraße 22 sind di. und do. von 17 bis 21 Uhr geöffnet.

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