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Der Schmelzer reißt den Hochofen ab

In Eisenhüttenstadt arbeitet die größte Beschäftigungsgesellschaft des Landes Brandenburg/ Dienstleistungen für eine darniederliegende Region/ Erste Hoffnungen auf Dauerarbeitsplätze durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen  ■ Von Bettina Markmeyer

Eisenhüttenstadt (taz) — Jürgen Nickel hat das riesige Loch in den stählernen Mantel des Hochofens Nummer 4 geschnitten. Jetzt sind er und seine Kollegen dabei, die Reste der Ausmauerung herunterzuholen. Schwere Brocken stürzen hinab. „Vorher war ich Schmelzer am Ofen“, sagt der stämmige Dreißigjährige und lächelt etwas schief. Er stand an der Abstichrinne, in die sich das flüssige Roheisen ergoß. Heute liegen F6-Schachteln und leere Bierdosen in dem schwarzen Staub. Jürgen Nickel reißt seinen Arbeitsplatz ab — das sichert ihm Arbeit und Geld bis Mitte 1993.

Ursula Keitz war Schichtarbeiterin bei der EKO Stahl AG, zuletzt in Dauerkurzarbeit. Seit November arbeitet sie im Vier-Schicht-System in der Babysitter-Agentur „Kinderparadies“, parterre in einem Platten- Wohnblock. Ihre fünfjährige Tochter kann sie mitbringen. Alleinstehend, mit Kind und ohne Arbeit, das waren die Kriterien, die Ursula Keitz zu der ABM-Stelle im „Kinderparadies“ verhalfen, wo neun Frauen Kinderbetreuung rund um die Uhr zu extrem niedrigen Preisen anbieten. „Der Bedarf ist riesig“, weiß Ursula Keitz. Schon bevor die Babysitting- Agentur öffnete, beaufsichtigte sie mitunter sechs Kinder in ihrer eigenen Eineinhalb-Raum-Wohnung.

Der Schlosser Hubert Thiele hat viele Jahre dafür gesorgt, daß Traktoren, Kartoffelernter oder Mähdrescher bei der LPG Pflanze in Grunow einsatzbereit waren. Heute renoviert er mit dreißig anderen Frauen und Männern aus den umliegenden Dörfern die Schweineställe im 15 Kilometer westlich von Eisenhüttenstadt gelegenen Dammendorf. Gitter und Boxen sind längst abgebaut, jetzt werden die Betonböden aufgestemmt. Mit ihnen verschwindet auch das Güllearoma aus den Gebäuden, in die — so hoffen die DörflerInnen — möglichst bald Kleingewerbe oder Handwerksbetriebe einziehen sollen.

Jürgen Nickel, Ursula Keitz und Hubert Thiele sind drei von über 1.100 Beschäftigten der GEM, der „Gemeinnützigen Gesellschaft für Qualifizierung und produktive Berufs- und Arbeitsförderung der Region Eisenhüttenstadt mbH“. Die GEM ist eine der ersten und die größte Beschäftigungsgesellschaft in Brandenburg und soll die Massenentlassungen bei der EKO Stahl AG abfangen helfen. Eisenhüttenstadt, die 50.000-Einwohner-Stadt südlich von Frankfurt/Oder, lebt und stirbt mit der EKO Stahl AG, früher Eisenhüttenkombinat Ost, das bis zur Wende etwa 12.000 Menschen beschäftigte und für das die Stadt erbaut wurde. Rundum gibt es keine anderen Arbeitsplätze, nur Kiefern und märkischen Sand, in dem die übriggebliebenen LPGs um ihre Existenz kämpfen.

Heute arbeiten auf dem 14 Kilometer langen und drei Kilometer breiten Gelände der EKO Stahl AG noch gut 8.000 Menschen, 650 von ihnen in bereits privatisierten Betriebsteilen. 1.730 wurden in den Vorruhestand entlassen, die übrigen sind arbeitslos, weggezogen oder stecken in den Umschulungs-, Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der GEM. Die Treuhand verhandelt derzeit mit sieben Anbietern aus dem In- und Ausland, darunter Krupp und Salzgitter, erste Entscheidungen sollen Mitte Januar fallen. Keiner der möglichen Käufer jedoch wird mehr als 3.500 Arbeitsplätze garantieren.

Nach Einschätzung der brandenburgischen Landesagentur für Struktur und Arbeit (LASA), der Dachorganisation der Beschäftigungsgesellschaften, arbeitet die GEM bisher recht erfolgreich. Quantitativ ist dies offensichtlich, haben GEM-Geschäftsführer Adalbert Bartak und seine Leute doch seit April letzten Jahres 50 verschiedene Projekte auf den Weg gebracht, die die Bundesanstalt für Arbeit mit 63,5 Millionen Mark finanziert. Zu Beginn dieses Jahres wurden zwölf neue Maßnahmen für weitere 187 Arbeitslose beantragt. „Wir haben sehr viele Maßnahmen“, meint GEM-Geschäftsführer Bartak, „die der Allgemeinheit wirklich nützen und die derzeit weder die EKO-Stahl noch der Kreis oder die Stadt finanzieren könnten.“

Die Frage jedoch, aus welchen dieser ABM-Projekte einmal neue Unternehmen und sichere Arbeitsplätze hervorgehen könnten, wagt auch Werner Feist, der sich um Genehmigungen und Gelder für die AB- Maßnahmen kümmert, nur zögernd zu beantworten. Arbeiten wie der Abriß eines Hochofens sind zwar schwer und gefährlich, qualifizieren aber nicht weiter. Die Babysitterinnen dagegen werden sich, auch wenn die AB-Finanzierung ausgelaufen ist, vor Arbeit nicht retten können. Doch ihre Tagessätze von derzeit zwei Mark plus drei bis fünf Mark fürs Essen, die es jeder Frau ermöglichen, ihr Kind abzugeben, werden dann ein Vielfaches betragen. Ursula Keitz allerdings ist optimistisch: „Unsere Chefin will auf jeden Fall weitermachen. Und bis dahin verdienen die Leute ja auch mehr als heute!“ — Wenn sie verdienen.

Ein Autorecycling-Projekt auf bisher ungenutzten Flächen des EKO-Geländes mit derzeit 60 Ex- EKOianern könnte Zukunft haben, hofft Werner Feist. Doch noch werde hier mangels Werkzeug ineffektiv gearbeitet. Außerdem sind, wie sich schnell zeigt, zukünftige Verwertungswege nicht in Sicht. Ganz auf einen zukünftigen Investor eingestellt sind dagegen die ABM- Kräfte in der einstigen Dammendorfer LPG. Engagiert, geradezu liebevoll räumen sie auf, weißen die Wände, machen sich über Deckenhöhen und Grünflächen Gedanken. Eine Firma für Gartengeräte jedoch erwies sich als nicht solvent. Derzeit prüft man das Angebot eines Bodenaufbereitungsbetriebs. Doch ob das idyllisch an der Straße von Eisenhüttenstadt nach Beeskow gelegene „Gewerbeobjekt“ einen Käufer finden wird, steht dahin.

Grundvoraussetzung für den Erfolg aller Initiativen ist, daß Eisenhüttenstadt Stahlstandort bleibt. Frauen, das läßt sich schon heute an ihrem nur ein Drittel betragenden Anteil in den Beschäftigungsprogrammen absehen, werden es besonders schwer haben. All dies jedoch seien Probleme, meint GEM-Geschäftsführer Bartak, mit denen man sich überall in den neuen Ländern herumschlage. Gleichwohl treibt den früher für Personalplanung im EKO zuständigen Mann ein „großer Motivationsschub: „Wir machen hier etwas, was vielen einzelnen Menschen sehr nützt.“

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