: Gottsucher und die unbefleckte Empfängnis
Ferdinand Bruckners „Marquise von O.“ und Julien Greens „Automat“ in Freiburg ■ Von Martin Halter
Hat sie nun oder hat sie nicht? Ohnmacht oder stille Duldung? Unbefleckte Empfängnis oder Vergewaltigung? Den Retter und Schwängerer hat sie doch nur deshalb als Teufel wiedererkannt (und am Ende, als er seine Schuld durch Liebe abgebüßt hat, geheiratet), weil er ihr damals, bevor ihr gnädig die Sinne schwanden, als Engel erschien: Die Einlassungen der Marquise von O. zur Sache sind ungefähr so verschlungen wie die von Sascha A. Kleist hat die unerhörte Begebenheit zwar klüglich im stimmungsvollen Halbdunkel der Gedankenstriche belassen; aber später hat er die als kantianische Erkenntniskritik getarnte Bewußtlosigkeit der Dame männiglich als „schamlose Posse“ enthüllen zu müssen geglaubt: „Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.“
Bei Ferdinand Bruckner, der die Novelle dramatisiert hat, ist alles anders und doch nicht auf der Höhe der Zeit. Der Vorfall ist von Oberitalien ins Preußen der Befreiungskriege verlegt worden; der russische Graf F. ist ein deutscher Haupt-Mann in napoleonischen Diensten, und die Gefühlsverwirrung der Marquise ist zu einem Familiendrama à la Emilia Galotti umgedeutet worden. Eine doppelte Jungfrauengeburt steht auf dem Spiel: die der Frau, die sich, Mutter Gottes oder jedenfalls Mutter Courage, ihr Kind und ihre Freiheit gegen familiäre und gesellschaftliche Konvenienzen „erkämpft“, und die weniger geglückte Erhebung des geschändet am Boden liegenden Deutschlands. Das hielt übrigens auch die Augen bloß zu, als Bruckner nach der Uraufführung seiner Marquise von O. im Februar 1933 nicht mehr zurückkehrte.
Christian Pade hat in seiner zweiten Regiearbeit nach Brian Fiels Sprachstörungen im Freiburger Kammertheater das selten gespielte Stück als Drama einer weiblichen Selbstfindung inszeniert. Seine Frau von O. (Dina Sikiric) ist nicht das Opfer, das sich in seinen Aggressor verliebt, sondern eine beinahe heilige Jungfrau Maria, die, wenn nicht ihr Kind, so doch ihr Selbstbewußtsein parthenogenetisch selbst erzeugt; einmal schwebt sie leibhaftig zwei Fuß über dem Boden der Tatsachen. Ihr Retter und Teufel ist — vor dem Rußland-Feldzug — ganz der gewissenlose Eroberer, ein imperialistisch strahlender Kriegsheld, halb in Rocker-Leder, halb in Uniform; nachher ist er freilich nur noch ein lumpiges Riesenbaby neben einer mit sich identischen Mutter. Ihr Freiheitskampf, ihre Geburtswehen als Frau, sind das Modell einer gelungenen „Birth of a Nation“.
Pades Inszenierung enthält sich wie Bruckner des Moralisierens und Psychologisierens. Anfangs blitzt die Vergewaltigungsszene hinter den Vorhangschleiern der Verdrängung auf: Ein Mann hockt, diabolisch wie Füßlis Nachtmahr, nackt auf einer Schlafenden. Die Figuren sind gefangen im dreifach gestaffelten Rahmen einer Guckkastenbühne: Jede hat so ihre eigene Bahn, und alle reden aneinander vorbei: der Vaterpopanz (Hans Josef Eich), der sein Herz mit Familienehre, Ahnenkult und patriotischem Empfinden panzert; die bigotte Mutter (Sigrun Schneggenberger), die sich, ganz deutsche Bildungsbürgerin, in die machtgeschützte Innerlichkeit von Musik und poetischen Herzensergießungen flüchtet; die werdende Mutter, die nach anfänglichen Ohnmachten und Exaltationen nur noch heiligmäßig-somnabul in sich lächelt, und der Mann (Dietmar Nieder), der überflüssig wird. Das alles ist mechanisch präzis inszeniert, mit einer Kälte, die einen nicht erschauern, sondern nur fragen läßt: Warum hat Pade dieses Schauspiel ausgegraben, das Kleists Paradoxa zum alten Vater-Tochter-Melodram verwässert und die alte Vergewaltigermoral mit halbherzigen Emanzipationsthesen aufpoliert? Selbst wenn die Marquise von O. die Augen nur zugehalten haben sollte, so darf man sie heute nicht mehr zudrücken.
Ist Bruckners Drama, wenn nicht up to date, so wenigstens gut gebaut, so verhält es sich mit Julien Greens Vierakter Der Automat, der jetzt im Freiburger Podium seine deutsche Erstaufführung erlebte, gerade umgekehrt. Green, oft als „katholischer Autor“ abgetan, hat in seinem Werk zwar immer wieder die Erlösungssehnsucht des einsamen Menschen umkreist. Aber er tat dies mit der unbarmherzigen Kälte eines Höllen- Breughel, der das „Spiel der Welt, das heißt des Dämons“ malt — jene lust- und leidvolle Verlockung des Fleisches, der er selber — Homosexueller, ehe er seinen Körper um der Seele willen abtötete — immer wieder erlegen war. Zum Glauben fehlt ihm die Unschuld, aber Gottsucher ist er selbst in der Ausschweifung. Wer den Menschen wie eine Maschine auseinandernehmen will, wie de La Mettries Erben, die Psychoanalytiker, versündigt sich deshalb nicht nur an Gott, sondern frevelt auch wider die pantheistische Natur (und das Mysterium der Kunst sowieso). Psychoanalyse stört nicht nur den „automatisch“ ablaufenden Schreibprozeß. Wer den unberechenbaren Menschen wie einen seelenlosen Automaten zergliedern will, ist selber einer.
Nach dieser kindlichen Logik funktioniert Greens letztes Theaterstück; nicht eben das stärkste seiner fünf mittelmäßigen Dramen: Der ewige Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, Gott und Sexus ist ein epischer Konflikt. Der Automat, 1980 entstanden und erst einmal (1990 in Klagenfurt) mit abschreckendem Resultat aufgeführt, ist ein mattes Alterswerk: Das Feuer der Jugend glimmt nur noch in der Asche melancholischer Erinnerungen fort; die kreatürliche Angst hat sich zum Heulen und Zähneklappern verdünnt. Was der „Zeremonienmeister des Unglücks“ einst in knappen Gesten, in düsteren Andeutungen und einer asketischen Sprache ausdrückte, ist nun zu aufdringlichen Metaphern und geschwätzigen Salongesprächen über Gott und die Welt aufgeschwollen; die existentialistische Wucht, mit der sich der Zufall als ehernes Schicksal verkleidete, ist zum forcierten Tragödienton heruntergestimmt, und die Figuren, die in Greens besten Tagen „personae“, hohltönende, aber scharfgezeichnete allegorische Masken waren, sind jetzt nur noch Hohlköpfe. Bertrand Lombard, der agnostische Professor (von Altersmelancholie umflort wie der Meister selbst: Wolfgang Schwarz), der in seinem Neffen Steve, einem genialisch verwirrten Maler, und seiner religiös überspannten Nichte Jeanne (sichtlich unterfordert: Anne Tismer) den Jungbrunnen seiner müden Seele schätzt: Das sind eher blasse Nazarener- Skizzen als Menschen. Der Psychoanalytiker Pazzo (zu deutsch: Narr), den Manfred Meihöfer mit gewohnt berserkerhafter Grandezza gibt, ist eine Schmieren-Karikatur. Und der Industrielle Blondeau, der zum moralischen Bankrott des Onkels den finanziellen hinzufügt, seine erotomane Frau (Marietta Meguid, die femme fatale vom Dienst) und der Diener Casimir (Hanno Meyer nutzt die Butlerrolle gewissenhaft zu einem hübschen Kettensägenmassaker) sind vollends Feydeau-Typen.
Es spricht für Robert Hunger- Bühlers schauspielerische Intuition, daß er bei seinem Regiedebüt wenigstens die Darsteller zu beachtlichen Leistungen geführt hat. Was anfangs fast wie im Lockruf der Bahnhofsmission wieder auf ein grelles Passions- und Märtyrerdrama nach dem biblischen Schema Leere-Orgie-Katzenjammer hinzutreiben scheint, gewinnt nach der Pause ein wenig an Dichte. Was nicht hindert, daß die fast dreieinhalb Stunden lang werden. Stefan Mayers Bühne, mit Efeu und Devotionalienkitsch umrankt, vertauscht die Rolle: Das Drama findet im Zuschauerraum statt, das Publikum sitzt, zur Selbsterkenntnis verdammt, auf der Bühne. Ein halbes Dutzend Lustknaben, mit verfaulten Zähnen und debilem Grinsen wie auf den Gemälden des schwulen Renaissance-Rowdys Carravaggio, lümmelt sich derweil unverfroren in den Sitzen. Gegen Endzeit wie Idylle sind die Säulenheiligen auf der Bühne hermetisch abgedichtet und doch nicht immun. Nur daß die jungen Gottsucher, ob sie nun sterben oder ins Kloster fliehen, den „Doktor des Nichts“ mit ihrem unbändigen Lebenswillen noch blamieren. Neben ihrer Glaube/Hoffnung/Liebe- Neurose sieht der nihilistisch abgeklärte Faust am Ende buchstäblich alt aus. Aber was, bitteschön, sollen wir aus diesem Dostojewski für Alte Herren lernen? Daß das Gewissen sich in Portwein und Mercury nicht ertränken läßt? Daß der Krieg — und alles, was draußen passiert, ist Krieg — die Seelenruhe stört? Alle Weihrauchschwaden und Ewigen Lichtlein der Mutter Kirche können nicht den Blick darauf verstellen, daß Julien Greens Automat ein eher seelenloses Thesenstück ist — weniger eine große Confessio oder gar ein künstlerischer Gottesbeweis als ein mit zittriger Schrift verfaßter Beichtzettel, auf dem die Trauer um den Verlust der jugendlichen Kreativität ganz oben steht.
Ferdinand Bruckner: Die Marquise von O. Regie: Christian Pade. Bühne: Sybille Gädecke. Mit Dina Sikirić, Hans Josef Eich, Sigrun Schneggenburger u.a. Kammertheater Freiburg. Nächste Vorstellungen: 24. und 25.Januar.
Julien Green: Der Automat. Regie: Robert Hunger-Bühler, Bühne: Stefan Mayer. Mit Anne Tismer, Wolfgang Schwarz, Manfred Neihöfer u.a. Podium Freiburger Theater, nächste Vorstellungen: 14., 15. und 16.Januar.
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