: Die Lust zur Panik
■ Die Rücktrittsforderungen Chasbulatows sind sein gutes Recht
Die Lust zur Panik Die Rücktrittsforderungen Chasbulatows sind sein gutes Recht
Im Bewußtsein und Gefühl der russischen Intelligenz spielt das Interesse an Verteilung und Ausgleich immer eine weitaus größere Rolle als das Interesse für Produktion und Schöpfertum“, urteilte vor rund 70 Jahren der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Und die massiven Forderungen nach dem Rücktritt der gerade mal einige Monate alten Regierung, die als erste vom Reden zur Tat übergegangen ist, müssen in ebendiesem Kontext gelesen werden. Sie sind Altlasten, die in die Ursprünge der russischen Geschichte zurückgreifen, jenem byzantinischen Irrglauben, Harmonie zwischen säkularer und geistlicher Macht auf Teufel komm raus erreichen zu können. Nur heute ist es der Vorsitzende der russischen Legislative, der die Exekutive nicht nur überprüfen, sondern wieder mal nach seinem Bilde formen möchte.
Gegen die Art der Implementierung wirtschaftlicher Reformen der Jelzin-Regierung läßt sich aus ökonomischer Sicht sicherlich eine Reihe an handfesten Argumenten anbringen. Die Freigabe der Preise zu einem Zeitpunkt, da die Privatisierung noch nicht fortgeschritten ist und die alten Monopolstrukturen die Chance wahrnehmen können, ohne mehr zu produzieren, erheblich mehr abzuschöpfen. Doch dies ist nur eine Seite der Streitereien zwischen Parlament und Exekutive einerseits und Fraktionen innerhalb der Regierung andererseits. Angst mit den Reformen, einen massenhaften Protest zu evozieren, haben beide Seiten. Nicht umsonst griff Jelzin in den letzten Wochen zunehmend auf platte populistische Formeln zurück und beschwor die russische Einmaligkeit. Die Schwarzmeerflotte, die Wolgadeutschen und andere Peinlichkeiten. Für den Fall des Scheiterns der Reform müssen Nebenkriegsschauplätze errichtet werden. Den Querschießern allerdings geht es um eine andere Sache. Ihre Zugfiguren Chasbulatow und Vizepremier Rutskoj können der Unterstützung des noch konservativen Obersten Sowjet sicher sein. Rutskoj hat zudem die Heerscharen des militärisch-industriellen Komplexes hinter sich, die ins Rotieren geraten. Auf sie kommt mit den Reformen nicht nur soziale Härte zu, sondern von ihnen wird Umdenken verlangt. Gerade im harten russischen Winter tut so etwas weh. Viele von ihnen werden vorzeitig in Pension gehen müssen.
Wenn das Parlament denn wesentliche Bedenken gehabt hat, hätte es die Zeit vorher nutzen sollen, um Kurskorrekturen an dem Programm vorzunehmen. Das tat es nicht, denn dazu fehlt ihm die Disziplin und der Sachverstand. Vierzehn Tage nach Implementierung die Auswechslung der Mannschaft zu fordern ist Kinderkram. Die russische Intelligenz zeigt sich dafür besonders anfällig. In der derzeitigen Situation ist dies jedoch verantwortungslos. Dennoch ist es das gute Recht der Legislative, die Regierung scharf zu überwachen. Nach dem Sowjetsystem verbirgt sich dahinter immerhin schon ein nicht unwesentlicher Lernschritt. Und Jelzin kann es nur nützen, wenn er sich beobachtet weiß. Er liebt den Alleingang und noch mehr die Macht. Klaus-Helge Donath
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