: Doppelt demontierter Kolumbus-Mythos
Eine Anti-Eroberer-Oper in Bielefeld ■ Von Frieder Reininghaus
Fünfhundert Jahre Neuzeit seien genug, meinte der Redaktionsleiter einer im Osten Deutschlands einflußreichen Wochenzeitung zum Auftakt des Jubiläumsjahres der Entdeckung Amerikas. Seine Kolumne plädierte dafür, „keine neuen Grenzen zu überschreiten, nicht im Himmel und nicht auf Erden“. Am 10.September 1492 war es der in der christlichen Seefahrt unerfahrene und wissenschaftlich bestenfalls halbgebildete Cristoforo Colombo, der in der rasch wachsenden Entfernung zu Europa und der Bewegung in die offene Weite einen Grund zum Jubeln sah.
Entschiedene Kritik am Expansionsdrang der Europäer, mit dem nach dem Einverständnis der Geschichtsschreibung die Neuzeit anfängt, datiert nicht erst von heute. Schon vor 200 Jahren wußte Georg Christoph Lichtenberg, daß „der Amerikaner, der den Columbus zuerst entdeckte, eine böse Entdeckung gemacht“ habe.
Der Konquistador Cristóval Colón war eine höchst reale historische Figur, deren Sendungsbewußtsein, Eroberungsdrang und Bereicherungswille die Welt veränderte. Dieser Mann hat tatsächlich Geschichte geschrieben, indem er die Unterwerfung eines Kontinents einleitete, mit der Ausplünderung der Karibik begann und dem zur Weltherrschaft entschlossenen christlichen Abendland eine Neue Welt erschloß. Die Folgen seiner Bescherung dauern bekanntlich an.
Kolumbus war und ist aber zugleich ein Mythos. Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts wurden ihm wenigstens ein halbes Dutzend italienische Opern gewidmet, eine größere Anzahl von Romanen, Dramen und Kantaten in Deutschland. Das musikdramatische Großprojekt Christophe Colomb des neoklassizistischen Komponisten Darius Milhaud, zu dem der Karriere-Diplomat und katholische Bekenntnisschriftsteller Paul Claudel den Text beisteuerte, war 1928 abgeschlossen und wurde zwei Jahre später an der Berliner Staatsoper Unter den Linden mit riesigem Personalaufwand, Filmeinblendungen und unter der Leitung von Erich Kleiber uraufgeführt. In Spanien gab's wenigstens 1.003mal eine künstlerische Hommage à Colón.
Vor dem Hintergrund verklärender und überhöhender Kolumbus-Literatur liest sich ein Text des Bildhauers und Schriftstellers Arthur Zweininger mit erheblichem Vergnügen. Er wurde für den damals noch sehr jungen und als hochbegabt angesehenen Berliner Komponisten Erwin Dressel verfaßt — Mitte der zwanziger Jahre, einer Zeit, in der so manche heilige Kuh geschlachtet wurde. Warum nicht auch der scheinheilige Ochse Kolumbus?
Arthur Zweininger schilderte mit Süffisanz und in häufig recht komischen Versen die Vorgeschichte der ersten Eroberungsfahrt nach Westen. Sein Colón, ein Bittsteller aus Genua am spanischen Hof, bringt sich bei der Wirtshausmagd Pepita in Schwung für die historische Mission. Der Administration geht er mit seinem großen Plan schrecklich auf die Nerven. Doch als Mann und ganzer Kerl findet er das Wohlwollen der Königin Isabella von Kastilien.
Er setzte seine exorbitanten Forderungen schließlich durch, bekam immerhin drei Caravellen bewilligt und einen Vertrag, der ihm die erblichen Würden eines spanischen Großadmirals und Vizekönigs der von ihm zu findenden und zu unterwerfenden Länder verhieß; dazu 10 Prozent der Einnahmen aus den künftigen Kolonien. Das Libretto hält sich streng an die historischen Begebenheiten.
Wie wirksam der Mythos Kolumbus in neuerer Zeit war, mag ein Bettelbrief Richard Wagners an seinen Mäzen, König Ludwig II. von Bayern, andeuten. Wagner verglich sich, sein Geld- und Geltungsbedürfnis in aller Bescheidenheit mit dem des legendären Seefahrers. „Was gab dem Manne diese unbegreifliche Energie“, fragte er im Oktober 1864 rhetorisch, „auf Bedingungen zu bestehen, die jedem nur die unerhörte Habsucht eines Menschen aufzudecken schien, der lieber sein so lang erstrebtes Unternehmen aufgab, als einen Punkt seiner Forderungen nachließ? Ein königliches Weib begriff ihn einzig: Isabella von Castilien erkannte gerade an der Größe dieser Forderung die Größe der Überzeugung von der Wahrheit und der Idee, die in Columbus' Geist bereits die neue, unermeßlich reiche, mit keinem Preis zu bezahlende Welt leben ließ.“
Gegen diese Vorstellung des von der Idee, gar einer „reinen Idee“ besessenen Erforschers des Westens opponierte Arthur Zweiningers Text. In der Oper Armer Columbus erscheint der Held als hochstapelnder Handlungsreisender und Glücksritter, als ein Mann der Prestige-Lügen. Die Neuzeit wurde sichtlich nicht aus dem Willen zum Guten geboren.
Als Erwin Dressel die Geschichte in Musik brachte, war er noch keine 19 Jahre alt. 1928 kam die Oper in Kassel am Staatstheater (mit Erfolg) heraus. Dressel bediente sich des Revuetons der zwanziger Jahre und mischte allerhand Ablagerungen aus der Opern- und Operettentradition in seine nicht sehr spezifische Musikmelange. Der von Zweininger gründlich entmythologisierte Kolumbus wird dergestalt apart eingerahmt, ja eingeschäumt. Das Stück hat Qualitäten.
John Dew machte es vor schlichter Kulisse in Bielefeld allerdings zur Klamotte. Königin Isabella, gegeben von der Sopranistin Diane Jennings, erscheint zunächst als fette Pepita, entpuppt sich dann als verkommenes Hürchen und grotesker Trampel dazu. Ihr Ferdi, ein schafsnäsiger König, kommt mit dem Schnuller im Mund, goldglitzernden Bermudashorts über den Kniestrümpfen daher, der Hofstaat in mehr oder minder überzeichneter Debilität.
Alle zusammen agieren vor der Grobplanungskarte der Expedition, den Leucht-Dreiecken (die das Zeltlager vor Granada andeuten) und dem Osborne-Stier oder auch den Kakteen des erst noch zu entdeckenden Kontinents. Alles ist dreimal zu dick aufgetragen. Richard Vardigans, designierter Erster Kapellmeister, dirigierte, ohne dem Premierenabend den nötigen Feinschliff gegen zu können. Die elegantere Ironie des Textes verpufft. Ein Stück, das womöglich wiederzuentdecken gewesen wäre, wurde erheblich unter seinem möglichen Wert verschleudert.
Das Premierenpublikum nahm die Produktion trotzdem mit hörbarem Vergnügen, ergötzte sich an der billig hergerichteten Dekadenz jener historischen Figuren, die ihre Neuzeit einläuteten. Daß sie zu Renaissancen fähig ist, gehört ebenso zur abendländischen Zivilisation wie ihre Kehrseite — die Verbrechen und Schrecken, die ihr die ökonomische Basis verschafften und bis auf den heutigen Tag erhalten; aber auch die Errungenschaft gehört dazu, die Helden der Geschichte und Gegenwart zu demontieren, ihre Schwächen dem allgemeinen Gelächter preiszugeben. In diesem Sinn waren 500 Jahre Neuzeit noch lange nicht genug. Und Rückfälle in ein wie auch immer geläutertes Mittelalter, paratheologisch begleitet oder sonstwie weltanschaulich verbrämt, mag ich gegen die verfluchten Segnungen der sich entwickelnden Neuzeit nicht eintauschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen