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EUROFACETTENWilde Tiere

■ National- oder territorialer Verfassungsstaat?

Die Skeptiker in Westeuropa scheinen die Befreiung der osteuropäischen Gesellschaften vom Totalitarismus als ein Ereignis zu erleben, das der Öffnung von Käfigen mit wilden Tieren gleichkommt. Zu den schlimmsten der freigewordenen Übel zählen der Nationalismus und die Minderheitenprobleme. Einen geeigneteren Zugang zu den Problemen des ost- beziehungsweise südosteuropäischen Raumes kann man sich verschaffen, wenn man auf die unterschiedlichen Bedingungen achtet, unter denen die Konstituierung der neuen Staaten verläuft. Der Zustand, in dem sich die meisten von ihnen befinden, ist das Ergebnis der jahrhundertealten imperialen und kolonialen Politik verschiedener Großmächte. Eine ihrer Folgen war, daß die Prozesse einer bürgerlich-nationalen Homogenisierung zum Staatsvolk, wie sie im Westen stattgefunden haben, kaum zustande kamen. Die Geschichte vieler dieser Völker ist die der Selbstbehauptung, die der Bewahrung der nationalen, kulturellen und sprachlichen Identität unter Fremdherrschaft und Assimilierungsversuchen, die mit Hilfe der kommunistischen Gewaltherrschaft bis in die jüngste Vergangenheit reichen. Sollen auf dem Territorium des ehemaligen Sowjetimperiums ebenso wie auf dem Jugoslawiens die neuen Staatsgebilde gelingen, werden sie den komplexen geschichtlichen und multiethnischen Bedingungen genügen müssen. Auf der einen Seite entstehen sie auf dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker, auf der anderen können sie dieses Recht nur innerhalb der bestehenden Grenzen verwirklichen. Das heißt, daß sich diese Staaten eben nicht im Sinne ethnisch homogener Einheiten konstituieren können beziehungsweise das Selbstbestimmungsrecht nicht zum Schaden der auf ihrem Territorium lebenden Minderheiten oder gar Nachbarstaaten verwirklichen dürfen. Diese Spannung zwischen dem National- und dem territorialen Verfassungsstaat enthält Risiken und Chancen: er kann als nationalistischer Sprengsatz wirken, er kann aber auch zur Begrenzung der Vereinnahmungen durch den Nationalgedanken führen.

Welche Entwicklungsvariante sich letztendlich durchsetzt, wird nicht zuletzt von der westeuropäischen Politik beeinflußt werden. Geschichtlich neu aber ist, daß — ausdrücklich oder nicht— die Erlangung der Eigenstaatlichkeit mit der Bedingung verknüpft wird, sich als Verfassungsstaat, in dem die Minderheitenrechte garantiert werden, zu konstituieren. Wenngleich die Stabilität der ost- und südosteuropäischen Staaten tatsächlich von dem Gelingen der Verbindung von nationaler Selbstbestimmung und dem Schutz der Minderheiten abhängt, kann diese EG-Forderung den Anschein eines Diktats bekommen. Außerdem machen sich die westeuropäischen Mächte lächerlich, wenn sie von den neuentstehenden Staaten Garantien des Minderheitenschutzes verlangen, die sie selbst ihren Minderheiten nicht gewähren. Man versteckt sich hinter dem universellen Prinzip des Staatsbürgertums, doch es gibt, mit Ausnahme des schweizerischen, keines, das nicht einen nationalen Namen tragen würde. Dunja Melcic

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