: Der Bürgerschreck
■ Noch 14 Tage: Otto-Dix-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie
In der Neuen Nationalgalerie: Man muß die Portraits nur lange genug fixieren. Irgendwann erwischt es einen. Bevor das Auge sich aufs nächste Bild heften kann, bleibt man haften. Irgendein Galeriebesucher steht einem im Weg, sieht merkwürdig aus. Bei jeder Maske steht ihm der miese Charakter veristisch-zombihaft ins Gesicht geschrieben, peinliche Details aus dem Privatleben entlarven sich ungewollt an der Nasenspitze, und überhaupt scheint er ein typischer Repräsentant der mit Spannung erwarteten 90er Jahre zu sein. Die Diagnose läßt keinen Zweifel: es ist der Dix-Blick. Hätte man jetzt Stift und Pinsel zur Hand und das Einmaleins altdeutscher Lasurmalerei im Säckel — man könnte die Dixsche Portraitgalerie um ein neues Werk bereichern.
So kann es einem ergehen. Die Portraits haben eine hypnotische Kraft, die die Toten der »Golden Twenties« wiederauferstehen läßt. »Wenn ich zu einem Menschen sage: Sie möchte ich malen, dann habe ich das Bild bereits in mir«, und: »Man soll denjenigen möglichst nicht kennen«, plaudert der Urheber des Dix- Blicks aus der Trickkiste.
Anita Berber als skandalumwitterte Nackttänzerin im hochgeschlossenen »kleinen Roten«, die nicht eben erfolgreiche Journalistin Sylvia von Harden, Sinnbild der emanzipierten Intellektuellen, als ihre unerotische Gegenspielerin. Der Dichter Ivar von Lücken, der Fabrikant Dr. Julius Hesse, der Schauspieler Heinrich George — sie alle repräsentieren Charakterbilder einer Zeitepoche.
Dix mußte immer mittendrin stehen, sich immer am Puls des Zeitgeschehens tummeln. Er gehört nicht zu denen, die mit Hilfe eines -ismus die Welt zu analysieren und in antiseptische, nicht real erfahrbare Einheiten zu sezieren versuchen. Sein eigenwilliger Zynismus entstammt der schonungslosen Beobachtung und Neugier eines Geistes aus der Nietzsche- Schule, nicht einer gezielten gesellschaftskritischen Reflexion.
Wo andere angewidert den Blick abwenden oder schamvoll die Lider zu Boden senken, gerade da fühlt er sich magisch angezogen. Mit voyeuristischer Lust läßt er sein Argusauge schweifen und bannt die Gestalten der Halbwelt, die Huren und Zuhälter, aber auch die Kleinbürger mit unzensierter Neugierde aufs Papier. Extreme Frauenakte, um Haaresbreite an der Pornographie vorbei (zweimal mußte er sich vor Gericht wegen »unzüchtiger Darstellung« verantworten), zerfetzte Leiber nach einer Granatenexplosion — er bleibt den Grenzbereichen des sinnlich Erfaßbaren auf der Spur. Ausgestattet mit einer ordentlichen Portion Narzismus, der sich nicht zuletzt in zahlreichen Selbstportraits niederschlägt, vermag er sich in Pose zu setzen, Bürgerschreck und Karrierist gleichzeitig zu sein.
In der Neuen Nationalgalerie kann sich der Besucher noch 14 Tage lang bei einer Ton-Diaschau in der Empfangshalle das historische Hintergrundwissen aneignen, bevor er das Werk von Dix abschreitet. Eine gute Idee, steht er doch wie nur wenige Künstler dieses Jahrhunderts als Künstler-Repräsentant deutscher Geschichte da.
Mutiges Experimentieren mit den unterschiedlichsten Stilformen und Teilnahme am aktuellen Zeitgeschehen kennzeichnen sein Werk. 1914 unterbricht Dix sein Studium an der Kunstgewerbeschule zu Dresden, um sich im Taumel der allgemeinen Kriegseuphorie als Freiwilliger zur Front zu melden. »Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen«, sagt er rückblickend. So liest der Unerschrockene im Schützengraben, und nicht Bombenhagel noch Hohngelächter der unbedarfteren Kameraden vermögen ihn von seinem Aquarellblock zu trennen. Man ist zum Maler berufen. Dix überlebt das Inferno und, die Bilder an den Wändn der Nationalgalerie beweisen es, mit ihnen diverse Grabenproduktionen sowie eine Serie gezeichneter Feldpostkarten im expressiven Stil. Doch fehlt seinen Bildern bislang der zeitkritische Biß, der ihn später — so will es die Kunstgeschichtsschreibung — so auszeichnen soll.
Sind es vielleicht die Dadaisten, die ihn 1920 aus dem Dornröschenschlaf küssen und ihn den Blick schärfen helfen? Im Zuge seiner nicht lange währenden Faszination für diese »Meister des Zynismus« entstehen die ersten Werke, die ihm in seiner Lieblingsrolle als Bürgerschreck alle Ehre machen: drei höchst unzulänglich zusammengeflickte, mit Mühen als menschliche Wesen identifizierbare Gestalten beugen sich über ein zierliches Marmortischchen. Kaum sind die aus den Beinstrümpfen ragenden Holzbeine von Tisch- und Stuhlbeinen zu unterscheiden. Die Spielkarten, die diese Monster mit Hand- bzw. Zahnprothese halten, sind echt (Die Skatspieler). Die dadaistischen Werke von Dix sind Collagen, die die Leidtragenden des Krieges, die Krüppel, zum Thema haben.
Nicht nur wohlgenährten Bürgerseelen jagt Dix mit seinem 50seitigen Radierzyklus Der Krieg (1923) die Gänsehaut über den Rücken. Der Maler, der zuvor noch freizügig verkündete: »Du kannst Dir das nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist, wenn Du einem anderen das Bajonett in den Wanst rammeln kannst«, schafft hier ein Mahnmal für Pazifismus. Ähnlich »wehrzersetzenden Charakter« hat Der Schützengraben (1923), der dem faschistischen Bildersturm zum Opfer fiel, das Kriegstryptichon (1929) und das noch 1936 gemalte Werk Flandern.
Ein weiteres Meisterwerk ist das 1928 fertiggestellte Großstadttryptichon, ein Monstrum von vier Metern Gesamtlänge. Mit einem Mittelteil und zwei Flügeln ist es einem christlichen Wandaltar nachgebildet. Stilistisch standen hier die alten Meister Pate — mit der aufwendigen Lasurtechnik auf Holz ausgeführt, führen die Tafeln drei Kompositionsmöglichkeiten der spätgotischen Malerei vor. Der linke Flügel zeigt einen Krüppel, der die Schönen der Nacht mit sehnsuchtsvollem Blick verfolgt. Der Mittelteil skizziert eine ausgelassene Tanzszene mit Lifeband in einem Nachtclub. Rechts entsteigen die Huren dem Sündenbabel. Im Vordergrund schreitet eine Frauengestalt vorbei, die mit Dürerschem Gestus auf ihr Kleid weist, das, von einem Fuchspelz umrahmt, sich bei genauem Hinsehen als offene Scham entpuppt. Ein Sittengemälde der zwanziger Jahre, in der Nationalgalerie zusammen mit der Vorlage zu sehen —: dem Karton, der für diese Maltechnik erforderlich war. — Dix verstand sich auf den Balanceakt zwischen den Stühlen. Zwar haben ihn die Nazis aus der Dresdener Professur entlassen und seine Bilder als »entartete Kunst« an den Pranger gestellt. Dennoch führte er ein vergleichsweise lauschiges inneres Exil (auch so eine deutsche Versteck-Halbformel) als Landschaftsmaler am Bodensee.
Daß die DDR ihn später als Widerstandskämpfer stilisierte und mit der »Carl-von-Ossietzky-Medaille« belohnte, ließ er sich gerne gefallen. »Laß mich mit deiner dämlichen Politik — ich gehe lieber in den Puff«, konterte er seinerzeit auf den Vorschlag eines Freundes, der KPD beizutreten. Sollte den Lauschern der Stasi der flapsige Spruch entgangen sein? Mit dem Kniefall vor den Nazis allerdings scheint ihm die visionäre Kraft abhanden gekommen zu sein. Das Spätwerk wirkt fahl, die christliche Thematik zahm und langweilig. Klarer Fall: Dix hat den Dix-Blick verloren, und ohne Dix-Blick blickt Dix nix.
Die Ausstellung, zuvor in der Staatsgalerie der Stadt Stuttgart zu sehen, wird hier in Berlin gottseidank nicht mit der fragwürdigen Inszenierung wie dort gezeigt. Jantje Hannover
Retrospektive zum 100. Geburtstag von Otto Dix. Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Schöneberg, Di bis Fr 9-17 Uhr, Sa und So 10-17 Uhr.
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