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Die Löwen sind los

Oder: Wie ein viertklassiger Club das Eishockey neu erfindet  ■ Von Matthias Kittmann

Frankfurt (taz) — Noch ehe der erste Pfiff ertönt, ist die „La Ola“- Welle dreißigmal durch das Eisstadion gebrandet. Der Lärm der Zuschauer ist so groß, daß man sein eigenes Geschreie schon nicht mehr versteht. Nach weiteren 65 Wellen und vier Toren für die Heimmannschaft ist das erste Drittel gerade zur Hälfte verstrichen. Ein bekannter irischer Hersteller von dunklem Bier wird in seinem Rekordebuch unter „La Ola“ eine neue Zahl notieren. Derweil feiern die Fans weiter ihr Team und sich selbst. Doch auch der Gegner kommt nicht zu kurz. Wenn der Rückstand allzu trostlos wird, muntert die Menge ihn mit Monty Pythons „Always look on the bright side of life“ wieder auf. Gelingt ihm gar ein Tor, schallt der Gastmannschaft (auf die Melodie von Vamos a la playa) entgegen: „Trier in Extase — oh ohohoho!“

Das alles klingt wie Bundesliga, schmeckt wie Bundesliga und fühlt sich an wie Bundesliga. Tatsächlich aber treffen sich jede Woche fünf- bis sechstausend Leute im Frankfurter Eisstadion, um sich ein im Grunde völlig belangloses Spiel in der viertklassigen Regionalliga anzusehen.

Nun ist es nicht etwa so, daß in der Bankenmetropole nur Banausen zu Hause wären oder die Menschen hier nichts Besseres gewöhnt sind. Noch vor einem Jahr spielte die Eishockeyabteilung von Eintracht Frankfurt in der Bundesliga eine große Rolle — ihr bis heute unübertroffener 110-Tore-Sturm mit Lala/Nicholas/ Jooris bestimmte die Schlagzeilen. Das Präsidium von Eintracht Frankfurt konnte sich daran jedoch wenig erwärmen. Durch diverse Finanzpannen in der Fußballabteilung aufgeschreckt, stellte man den Eishockeymachern ein Ultimatum, entweder innerhalb von vier Wochen eine halbe Million Mark zur Deckung der Ausgaben zu besorgen, oder die Mannschaft abzumelden.

Als die Summe wider Erwarten aufgebracht wurde, erhöhte das Präsidium kurzerhand den Betrag. Damit war die Sache endgültig gelaufen und Frankfurt verschwand von der Eishockeykarte. 7.500 Menschen standen die Tränen in den Augen, als die Mannschaft nach ihrem letzten Play-off-Spiel noch einmal zu einer Ehrenrunde aufs Eis kam. Sollte es das gewesen sein? zwar hörte man etwas von einem neuen Verein — allein, der Glaube daran fehlte.

Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Zur Gründungsversammlung im Sommer 1991 mußte ein Konzertsaal gemietet werden, in den sich 800 Leute drängten — darunter auch einige ehemalige Eintrachtspieler. Innerhalb einer Stunde hatten sich genug Sponsoren gefunden, die zwei Drittel des veranschlagten 1,2 Millionen-Etats abdeckten. Der Zuschauerschnitt wurde vorsichtig mit 1.500 kalkuliert. Als schließlich Vorsitzender Walter Langela die Namen einiger Ex-Frankfurter als Mitglieder des neuen Teams bekannt gab, hielt es niemand mehr auf den Sitzen. Der ESC „Löwen“ Frankfurt war geboren. Kaum ein halbes Jahr später hat sich die Mitgliederzahl verdoppelt und die Zuschauerzahl vervierfacht. Die „Löwen“ sind damit der drittgrößte Eishockeyverein.

Betty und Reginald Erhardt sind die Eltern von Publikumsliebling Trevor Erhardt. Sie sind den weiten Weg von Calgary gekommen, um zu gucken, warum ihr Sohn seinen Beruf als Pilot zurückgestellt hat, um in der alten Welt dem Puck nachzujagen. „Bei den (Calgary) Flames sitzen wir in der 22. Reihe, und wir können jedes Wort verstehen, daß sich die Spieler auf dem Eis zurufen. Hier verstehe ich kaum ein Wort, das mein Mann zu mir sagt“, stellt Betty Erhardt fest. Sie erleben gerade zusammen mit 6.500 Zuschauern, wie die „Löwen“ im ersten Aufstiegsspiel den klassenhöheren HEC Bonn mit 14:4 abfertigen.

Genausowenig wie sich Akteure und Betrachter dem Happening entziehen können, ist dieses Phänomen zu erklären. Als die FR sich Mitte Januar daran versuchte und unter der Überschrift Absurdes Theater u.a. schrieb: „Die siegesgeilen Voyeure sind aber auch die einzigen, die an dem absurden Theater Gefallen finden“, bekam die Sportredaktion so viele Leserbriefe wie sonst in einem ganzen Jahr. In meist sehr sachlichen Zuschriften verwahrten sich die Leser und Fans gegen solche beleidigenden Unterstellungen: „Sollen wir bei jedem Tor in Tränen ausbrechen?“ Wenn schon das Theater als Vergleich herhalten soll, dann kommt dafür wohl eher Brechts Theater in Frage: Der Erzähler (Hallensprecher), die Rahmenhandlung (Spiel), Theater auf dem Theater (Zuschauer), kommentierende Spruchbänder („Let's go Löwen“) und andere epische Mittel dienen der Erreichung des Verfremdungseffekts. Sozusagen die Mittelbarkeit im Sinne hegelscher Ästhetik. Der Zuschauer als Handelnder — ein höchst kreativer und kommunikativer Akt!

Dies zeigt sich besonders nach dem Abpiff. Dann ist zwar das Spiel beendet, aber noch lange nicht das „Ereignis“. Auf den Rhythmus von We will rock you verwandelt sich die Halle noch einmal in einen brodelnden Kessel. Die Chearleader stellen sich auf, und das Eis wird in ein Licht getaucht, das an KubricksOdyssee im Weltraum erinnert. Und dann stürzen die einzelnen „Löwen“ noch einmal heraus, jeder mit seiner Choreographie. In der Mitte bilden die Cracks einen Kreis, und auf jeden dritten Beat heben Spieler und Fans die rechte Hand zur Faust. Wie zum Trotz gegen vergangene Schmach.

Dieses einzigartige Flair hat sich bis in die Bundesliga herum gesprochen. Toni Forster, Jürgen Adams, Andreas Nocon, Trevor Erhardt und Manfred Wolf etwa könnten in jedem Erstliga-Team mitspielen. Sie sorgen dafür, daß auch jeder auswärts mitbekommt, was Hunderte von mitgereisten Fans skandieren: „Hier kommt der ESC!“

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