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EG-Verträge: Abschied von der Demokratie

Heute werden die Maastrichter Verträge unterzeichnet/ Nationalparlamente verlieren an Einfluß  ■ Aus Brüssel M.Bullard/N.Daiber

„Es geht um die Zukunft der Demokratie überhaupt“, warnt der sozialdemokratische Europaabgeordnete Willi Rothley. Denn wenn heute abend in Maastricht die von den zwölf Staats- und Regierungschefs im letzten Dezember beschlossenen EG-Reformverträge unterzeichnet werden, sei der Verlierer die parlamentarische Demokratie. Mehr Rechte für das Europaparlament (EP) als Ausgleich für den Machtverlust der nationalen Parlamente hatten die EG-Chefs im Vorfeld versprochen. Die tatsächlich beschlossenen Zugeständnisse an das EP stünden jedoch in keinem Verhältnis zu dem Machtzugewinn des EG-Ministerrates. Von den neuen Kompetenzen, die der Gemeinschaft beispielsweise in der Außen-, Umwelt- oder Verbraucherpolitik zugeschlagen wurden, profitierten in erster Linie die auf EG-Ebene eh schon fast allmächtigen Minister.

So beschränkt sich die Beteiligung der Euro-Abgeordneten in Bereichen wie Außen-, Innen- und Asylpolitik weiterhin nur auf Unterrichtung. Dafür können sie aber in Zukunft bei der Bestellung der EG- Kommissare mitreden. Außerdem wurden ihnen mehr Mitspracherechte bei Fragen des Binnenmarktes, der Umwelt und des Verbraucherschutzes eingeräumt. Neben Unterrichtung, Anhörung, Zustimmung und Zusammenarbeit zwischen Parlament und Ministerrat gibt es nun noch die Mitentscheidung.

Doch auch bei dem neuen Verfahren hat der Ministerrat das letzte Wort. Irrelevant sei es auch, so Rothley, weil sich die neue Mitbestimmung im wesentlichen auf Gesetze für den EG-Binnenmarkt beschränke. Auch sind in einigen Bereichen wie der Umweltpolitik für einzelne Fragen unterschiedliche Beteiligungsverfahren vorgesehen. Konsequenz: Die Undurchsichtigkeit der Parlamentskompetenzen hat durch die Reform weiter zugenommen. Dies gilt vor allem für die Sozialpolitik. Die neuen Kompetenzen der EG in diesem Bereich sind wegen des Widerstands Großbritanniens nicht in dem eigentlichen Reformvertrag, sondern in einem Zusatzprotokoll festgehalten. Daraus ergeben sich etliche Probleme: Erstens wird damit ein soziales Europa der zwei Geschwindigkeiten eingeführt. Zweitens ist unklar, ob die britischen Euro-Abgeordneten in Zukunft über soziale Fragen mit abstimmen dürften.

Drittens muß geklärt werden, ob dieser Beschluß mit den Gründungsverträgen der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft vereinbar sei. Außerdem können Fragen der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes im Ministerrat weiterhin nur einstimmig beschlossen werden. Nachdem die britische Regierung an den Entscheidungen nicht mehr teilnimmt, wird sich eine andere Regierung mit der Blockierer-Rolle vertraut machen.

Selbst das Kernstück der Reformverträge, die Wirtschafts- und Währungsunion, bleibt von Kritik nicht ausgespart. Dabei geht es allerdings weniger um die von 'Bild‘ bis 'Spiegel‘ geschürte Angst, Kohl opfere die DM auf dem Altar der europäischen Einheit. Vielmehr sorgen sich viele Regierungen, ob sie 1996 oder spätestens 1998 überhaupt die Bedingungen erfüllen können, um in den elitären Klub aufgenommen zu werden. Zur Zeit haben nur Frankreich, Dänemark und Großbritannien eine Chance.

Werden die zwölf Parlamente in diesem Jahr die Verträge dennoch ratifizieren? In Irland und Dänemark sind vor der Ratifizierung Volksabstimmungen geplant. Italien und Belgien machen ihre Entscheidung von dem Votum des Europaparlaments abhängig. Kaum jemand zweifelt jedoch daran, daß die Euro-Abgeordneten ihre unterwürfige Rolle beibehalten und ihrer fortgesetzten Entmachtung zustimmen — den wortgewaltigen Drohungen ihrer Präsidenten zum Trotz.

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