: Placebo für US-Gesundheitssystem
George Bush verkündet seine Vorschläge zur Gesundheitsreform/ Scheindiskussion im Wahlkampf ■ Aus Washington Rolf Paasch
Das amerikanische Gesundheitssystem hängt schon lange am Tropf: zu wundstarr für jede Therapie, aber zu anspruchsvoll in der Pflege, als daß sich die Nation den jährlich 700 Milliarden Dollar teuren Dauerpatienten noch länger leisten könnte. Dabei haben heute 90 Millionen US-AmerikanerInnen entweder überhaupt keine Krankenversicherung oder immer größere Schwierigkeiten, die steigenden Prämien der privaten Versicherer bezahlen zu können.
Die Angst der Mittelklasse der Pleite im Krankheitsfall, das Stöhnen der Unternehmen unter den Kosten ihrer Beitragsleistungen und die Thematisierung der längst überfälligen Gesundheitsreform durch die oppositionellen Demokraten haben Präsident George Bush jetzt im Wahlkampf zum Eingriff gezwungen. Doch statt einer Ganzheitstherapie verabreichte der Präsident dem Gesundheitssystem am Donnerstag nur ein Placebo. Seine Reformen dürften an den Ungleichheiten und den eingebauten Kostensteigerungen des privaten Versicherungssystems kaum etwas ändern.
Die USA geben mit zwölf Prozent ihres Bruttosozialprodukts jährlich mehr als das Doppelte für ihr Krankenversicherungssystem aus als vergleichbare Industrieländer wie Großbritannien oder Deutschland. Damit wird eine exzellente Krankenpflege für Besserverdienende finanziert — mit der fortgeschrittensten Forschung, den besten Ärzten und den hochentwickeltsten Gerätschaften — während 34 Millionen AmerikanerInnen ganz ohne Krankenversicherung sind. Die Hälfte der Kosten für die Krankenpflege entfallen dabei auf jene fünf Prozent der Bevölkerung, die sich jeden medizinischen Luxus leisten können. Die Kindersterblichkeit in der zu 70 Prozent von Schwarzen bewohnten Hauptstadt Washington D.C. liegt dagegen auf dem Niveau Panamas oder Rumäniens.
Um diese sozialen Ungleichheiten zu lindern, will George Bush den Armen nun Gutscheine für ihre Krankenfürsorge ausstellen, während der Mittelklasse mit Steuererleichterungen bei der Bezahlung ihrer Versicherungsprämien geholfen werden soll. Doch weder die Gutscheine von 3.750 Dollar für eine Familie mit Kind, noch der Steuererlaß werden zur Bestreitung der wirklichen Krankheitskosten ausreichen. Und woher die 100 Milliarden Dollar herkommen sollen, die das Reformprogramm in den nächsten fünf Jahren kosten soll, blieb bei den Ausführungen Bushs ebenfalls offen. Die Kritiker des Präsidentenplans vermuten, daß Kürzungen in den beiden staatlichen Krankenversorgungsprogrammen Medicaid (für die Armen) und Medicare (für die Alten und Behinderten) die fehlenden Milliarden bringen sollen.
Um dies zu verhindern, schlagen die Demokraten einen verstärkten Eingriff des Staates in den bisher rein privaten Versicherungsmarkt vor. Eine Gruppe demokratischer Senatoren will die Unternehmer zur Kasse bitten, die sich bisher um ihren Krankenversicherungsbeitrag drücken. Wer seine Arbeitnehmer nicht versichert, soll demnach eine Steuer entrichten, aus derdann der Staat die Krankenversicherung bestreitet. Andere wollen gleich ein radikal neues System der staatlichen Krankenversorgung einführen, wie es in Kanada — mit bestimmten Abweichungen des britischen National Health Service praktiziert wird.
Beide Vorschläge setzen im Gegensatz zu dem Plan Bushs am Geburtsfehler des amerikanischen Gesundheitssystem an, wie es sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat: an seiner engen Anlehnung an den Arbeitsplatz. Als man in den 60er Jahren erkannte, daß die oft unsicheren Jobs eine unzureichende Grundlage für die Krankenversicherung darstellten, schuf man mit Medicaid und Medicare Programme für die Armen, Arbeitslosen und Rentner, die durch das weitgespannte Netz der freiwilligen und privaten Krankenfürsorge fielen. Heute erhalten 28 Millionen AmerikanerInnen Hilfe durch Medicaid, das mit einer astronomischen Kostensteigerung von 30 Prozent allein im letzten Jahr mittlerweile 90 Milliarden Dollar verschlingt.
Doch nicht nur arbeitslose und alleinerziehende Mütter, die ursprüngliche Zielgruppe von Medicaid, sondern niedrigverdienende ArbeitnehmerInnen in Kleinunternehmen werden zur immer größeren Problemgruppe des privaten Krankenversicherungssystems. Gerade in der Rezession können sich immer weniger Firmen und ihre Arbeiter die steigenden Versicherungsprämien leisten, während letztere mit ihrem Minimaleinkommen nicht mehr unter Medicaid fallen. So stehen heute drei Viertel aller Nichtversicherten in einem gültigen Arbeitsverhältnis.
Deswegen fordern mittlerweile selbst Großunternehmen wie General Motors oder IBM eine grundsätzlichere Reform des Gesundheitssystems als sie Präsident Bush jetzt vorgeschlagen hat. An drei von vier Streiktagen ging es in den USA im letzten Jahr nicht um Loherhöhungen oder Arbeitsbedingungen, sondern um die Verbesserung der Krankenversicherung.
Trotzdem bleibt die jetzt im Wahlkampf losgebrochene Debatte weitgehend eine Scheindiskussion. Die Regierung will aus ideologischen Gründen nicht zugeben, daß im Gesundheitsbereich der freie Markt gründlich versagt hat. Die Demokraten haben im Kongreß weder den Willen zu einer harten Auseinandersetzung noch eine Veto-sichereMehrheit zur Verabschiedung eines staatlichen Versicherungssystems. Eine Reform hat deshalb im Augenblick keine Chance.
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