GASTKOMMENTAR
: Zeitalter der Dunkelheit

■ In Algerien ersetzt Repression die freie Debatte über den Islam

In einem objektiven Beobachter, der die gegenwärtige Debatte über Islam und Demokratie verfolgt, können die zur Diskussion stehenden Alternativen schwerlich etwas anderes als Bestürzung auslösen. Die Herausforderung des Islam ist nicht, ob eine Gruppe an die Macht kommt oder eine andere, sondern eine tiefere moralische und intellektuelle Malaise, die die heutigen Eliten nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn überwinden. Seit 1924, als Atatürk das Kalifat abschaffte, hat sich in den islamischen Ländern folgendes Muster etabliert: Repression ersetzt die freie Zukunftsdebatte. „Säkulare“ Regime kontrollieren Moscheen, diktieren die erlaubten religiösen Lehren, bestimmen die Führungen und die Aufgaben religiöser Autoritäten. Atheistische Beamte schreiben die Freitagspredigten, während Ungläubige entscheiden, wer die Gläubigen im Gebet leitet, wann der Ramadan beginnt und worin religiöse Erziehung besteht. Die kleinen Diktatoren der islamischen Welt reiten auf dem Tiger der Religion, können auf ihm aber weder irgendwohin gelangen noch von ihm heruntersteigen. Seit Atatürk ist es keinem islamischen Land, keiner islamischen Gruppe gelungen, zum Islam eine alternative moralische oder ethische Grundlage für die politische Gemeinschaft zu finden. Das Ergebnis ist die Stagnation von heute. Muslime können weder so leben, wie sie wollen, noch wird ihnen eine akzeptable Alternative geboten. Alle Muslime glauben an den Koran als offenbartes Wort Gottes. Der Koran nennt alle, die nicht gemäß der göttlichen Offenbarung regieren, Renegaten und ungerechte Herrscher. Niemand hat bis jetzt gewagt, dieser Ansicht entgegenzutreten. Auch die Gegner der FIS in Algerien nennen sich gute Muslime. Der Kernfrage — wie kann man Muslim sein und dem Koran widersprechen? — weichen sie aus. Die gegenwärtige Konfrontation in der islamischen Welt ist also zwischen denen, die das Gewissen der Gemeinschaft repräsentieren und sie mit ihrem Glauben konfrontieren wollen, und denen, die diese Konfrontation fürchten, aber nichts anderes zu bieten haben außer Repression und dem Rat, weiterzuwursteln. Ein Zeitalter der Dunkelheit umgibt eine Region, wo Denk- und Handlungsfreiheit nicht gewährt werden, während diejenigen, die denken dürfen, keine Ideen mehr haben. Abdelwahab el-Affendi

Der Autor ist Mitarbeiter der sudanesischen Botschaft in London; gekürzt aus 'The Guardian‘, 10.2.1992.