: Mario Vargas Llosa:
■ Ein „Brief an Rushdie“
An jenem Nachmittag gingen wir zum Fußball, verirrten uns und landeten schließlich auf einer Tribüne voller Fußballfans mit bemalten Gesichtern, die etwas Ähnliches wie La cucaracha sangen, daß den Polizisten die Helme hochgingen. Wer hätte uns damals gesagt, daß Du wenige Zeit später das berühmteste zeitgenössische Opfer der extremen Gewalt — des religiösen Fanatismus — sein würdest!
Ich habe Dir sicher damals oder bei einer anderen Gelegenheit die Geschichte meines Kollegen am King's College erzählt, mit dem ich manchmal beim Mittagessen in einem Pub am Strand1 zusammentraf. Er war ein sehr belesener, beredter und dem Anschein nach zivilisierter Mensch. Bis ich ihn eines Tages hörte, wie er im Brustton der Überzeugung und im Namen von Tradition und Kultur — dieser äußerst gefährlichen Sache, die „Identität“ eines Volkes genannt wird — die Beschneidung der Klitoris bei Mädchen verteidigte, die ihre zukünftige Enthaltsamkeit gewährleisten soll.
Eines ist gewiß in diesen Zeiten historischer Wirbelstürme, die alles dem Boden gleichmachen: Die Zivilisation ist ein sehr dünnes Häutchen, das beim ersten Zusammenstoß mit den Glaubensdämonen kaputtgehen kann und beim ersten Angriff der sozialen Ungerechtigkeit zu zerreißen droht. Diese Dämone werden gerade überall losgelassen: im Iran, wo die „Fatwa“ gegen Dich erlassen wurde, aber auch in dem Land, aus dem ich komme, wo andere Fanatiker sich vorgenommen haben, die universelle Glückseligkeit mit Terror zu schaffen, und sogar in Europa, wo in letzter Zeit doch so viele außergewöhnliche Dinge geschehen sind, die als ein Sieg der Besonnenheit und Rationalität über die Lüge und das Dogma interpretiert werden könnten. Es hat nicht sollen sein. Und Du lebst in Deinem Versteck auf der Flucht vor dem Haß der Meute, um jede Illusion zu zerstören und um uns daran zu erinnern, daß die Schlacht nicht gewonnen ist und auch niemals gewonnen sein wird.
In Deutschland, das dank eines phantastischen anarchistischen Umsturzes der Ostdeutschen demokratisch wiedervereinigt wurde, treiben jetzt Gruppen von wilden Glatzköpfen ihr Unwesen, machen Jagd auf Türken und stimmen die alten rassistischen Refrains an. In Frankreich — dem Land der Menschenrechte — nähern sich angesehene Politiker der Linken und der Rechten den Thesen der „Front National“ an — Fremdenfeindlichkeit und Hurra-Patriotismus bringen heutzutage anscheinend Wählerstimmen. In Irland und Spanien morden andere „Patrioten“ mit Dynamit unschuldige Bürger, um abstrakte Beweise zu erbringen. In den Ländern, wo die Kultur der Toleranz, der Pluralismus und die Freiheit am stärksten verwurzelt zu sein scheinen, für deren Nachahmung in den letzten Jahren Abermillionen von Menschen im Osten mit so viel Hoffnung gestimmt haben, werden täglich neue Symptome des begraben geglaubten alten Kirchturmdenkens sichtbar.
Die „Rückkehr zum Volksstamm“, zum Privaten, das hartnäckige Bestehen auf die eigene Kultur, die Glaubensbekenntnisse und Bräuche, das Verschließen der Augen und Ohren gegenüber den anderen ist eine nicht ungewöhnliche Reaktion auf den schnellen Prozeß der Internationalisierung des Lebens, den die Welt, und der Westen insbesondere, erlebt. Es ist eine defensive Bewegung gegenüber dem Unbekannten und den großartigen Herausforderungen, die Perspektiven schaffen für einen Planeten, auf dem die Entwicklung der Freiheiten die Grenzen aufgelöst hat und diese immer künstlicher und überflüssiger werden läßt. Wenn dieser Prozeß aber scheitert an den rückschrittlichen Kräften, die sich ihm widersetzen und die dieser selbst geweckt hat, wird die Menschheit erneut einen jämmerlichen Schritt zurück gemacht haben, und das zu einer Zeit, als die Menschheit besser als jemals zuvor ausgerüstet zu sein schien für die Bändigung ihrer Dämone.
Wir dürfen nicht zulassen, daß die Verfolgung, deren Opfer Du bist, komplizenhaft totgeschwiegen wird und daß die öffentliche Meinung sich an das, was mit Dir geschieht, gewöhnt. Wir Schriftsteller haben die Pflicht, die Empörung und den Protest aus moralischen und auch praktischen Gründen aufrechtzuerhalten. Denn die Literatur könnte in einer Welt, in der ein Schriftsteller erpreßt und totgeschwiegen wird, nicht existieren. Wir müssen daran erinnern, daß es sich um eine unerträgliche Ungerechtigkeit handelt, gegen die sich die Regierungen und die öffentliche Meinung solange einsetzen müssen, bis sie beendet ist. Selten wird die meist unscharfe und zickzackförmige Linie, die das Rationale vom Irrationalen, die Gerechtigkeit von der Ungerechtigkeit, die Barbarei von der Zivilisation trennt, so deutlich sichtbar wie in dem Fall, den Du verkörpern mußt.
Lieber Salman, wir werden wieder gemeinsam zum Fußball gehen und lernen, La cucaracha zu singen.
Mario Vargas Llosa
Berlin, 7.Februar 1992
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