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Lustfahrt gegen Stadtfrust

■ Premiere von C. M. Bellmans »Stolze Stadt, ich hab' Dich satt!« in der Neuköllner Oper

In Schweden kennt ihn jedes Kind, hierzulande ist er ein echter Geheimtip: Carl Zuckmayr hat ihn übersetzt, Harald Juhnke hat ihn interpretiert (beide ziemlich schlecht) — und die Neuköllner Oper hat ihn letzten Freitag abend inszeniert: Carl Michael Bellman (1740-95), schwedischer Dichter, Sänger, Melodienfänger (für seine Lieder hat er meistens bekannte Melodien übernommen), Improvisator, Imitator und nicht zuletzt Hofsekretär und Günstling des schwedischen Königs Gustav III. Bekannt sind — Insidern und Schweden — vor allem zwei Liedsammlungen Bellmans: Fredmans Lieder und Fredmans Epistel, in denen das turbulente Treiben des alten Stockholms lebendig wird. Einige der Gestalten, die Bellman aus damals stadtbekannten Originalen geformt hat, tauchen in diesen Liedern immer wieder auf, und sie lassen uns teilhaben an ihren Schäferstündchen, Weingelagen, Prügeleien und Todesahnungen. Bellman hat allein durch seine Vortragskunst diese verschiedenen Figuren vor den Augen und Ohren seines Publikums entstehen lassen.

Winfried Radeke und Yella Burggaller, für die musikalische bzw. szenische Einrichtung verantwortlich, haben den Versuch gewagt, sie leibhaftig auf der Bühne erscheinen zu lassen. Aus insgesamt 29 Liedern, Instrumentalstücken und Texten haben sie eine musikalische »Lustfahrt« geschmiedet.

Teilnehmen konnte man an ihr in einem geräumigen »Boot«, das nur über einen kleinen Steg zu erreichen war. Der wurde bald eingezogen, Pauken und Trompeten erschollen und los ging's — zum Tiergarten —, wie das liebevoll gestaltete Programm verriet. Eine märchenhafte Szenerie tat sich da vor einem auf: zur linken eine Wirtshausstube, ein kleiner griechischer Tempel zur rechten und mittenmang der Ausblick auf ein zartbegrüntes Seeufer (Bühnenbild: Stephan Schwarz und Moritz Müller). Der Boots- und Spielmann turnte zwischen Bug und Heck herum und versuchte, die Drehleier kurbelnd, mit dem Titellied Stolze Stadt, ich hab' dich satt! ein Berlinern nicht unbekanntes Gefühl anzusprechen.

In den folgenden Szenen wurden nach und nach Bellmans Figuren eingeführt: Kostüme: Andrea Schmid), und je bevölkerter die Bühne wurde, desto mehr kamen die gekonnte Choreographie und die raffinierte, unerhört einfallsreiche Instrumentation zum Tragen. Nachdem der Beginn der Lustfahrt zu grob, hektisch und überrumpelnd dahergekommen war, loderte nun der Spielwitz des Ensembles, zündeten die Gags, fingen die Figuren an zu leben. Stimmung kam auf, und obwohl es keinen roten Handlungsfaden gab, lotste die Dramaturgie der Szenenabfolge uns Lustfahrende durch die Höhen und Abgründe des Bellmanschen Reiches.

Die mitreißendste Ensemble- Szene gab's nach der Pause mit Auf, ihr Trompeten, doch Höhepunkt dieses Abends war für mich Fredmans Monolog im Rinnstein. Wie Fredman (W. Radeke), geneckt und umsummt von vermummten Gestalten, den inneren und äußeren Weg von der Gosse einer durchzechten Nacht zum gerade wiedergeöffneten Wirtshaus findet, wie er sich anfänglich über die Lüste seiner Mutter bei seiner Empfängnis mokiert, schließlich aber den Tag seiner Geburt preist — das war ein ganzes Drama in nuce. Szene, Text und Musik verschmolzen hier zu einem Ganzen.

Das gelang nicht immer; manchmal nahmen sich diese drei Ebenen gegenseitig die Wirkung weg. Entweder die Geschichte des Liedtextes wurde allzu dick aufgetragen — dann ging die Musik baden. Oder die — in jedem Falle sofort ins Ohr gehende — Melodie war einfach zu hübsch, um der Satzstruktur angepaßt zu werden — dann ging der Text flöten. Manchmal übertönte das Bühnengeschehen auch beides.

Aber das war irgendwie egal. Die auf der Bühne hatten einen solchen Spaß beim Spielen, daß wir im Boot — spätestens nach dem Pausen-Wein — Lust bekamen, mitzumischen. Aus dem Herren neben mir summte plötzlich die gerade anstehende Refrain-Melodie, hinter mir wurde sachte der Takt geklopft, und ich selbst hätte mir zu gern die Lure (eine Art Posaune) geschnappt und kräftig mitgetrötet. Aber bald schon hieß es nach einem apokalyptischen Ende: Das Spiel ist aus! — und dem vehement getrampelten Wunsch nach Zugabe wurde bedauerlich konsequent nicht entsprochen. Andreas Bernnat

Weitere Aufführungen: 20. bis 22. und 27. bis 29. Februar jeweils um 20 Uhr in der Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131/133.

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