KOMMENTARE: Zweierlei Maß
■ Die neue Wendung im Fall Stolpe bedeutet eine Zäsur — auch für die Gauck-Behörde
Christa Wolfs unbedachtes Wort, die Aufdeckung ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi stelle einen späten Sieg dieser Behörde dar, erhält zu guter Letzt seine Berechtigung — allerdings ganz anders, als die Autorin es meinte. Läuft der „Fall Stolpe“ darauf hinaus, daß den Aussagen des Geheimdienst-Offiziers Wiegand Glauben geschenkt und der Code-Name „Sekretär“ als bürointerne Erfindung des Stasi angesehen wird, gerät die gesamte Arbeit der Gauck-Behörde ins Wanken. Mit gutem Grund wurde bisher davon ausgegangen, daß von schriftlichen Verpflichtungserklärungen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen abgesehen wurde und dies auch nur dann, wenn sich der Informant zur Konspiration bereit erklärte. Bis auf den heutigen Tag ist kein einziger Fall belegt, in dem sich der Begriff „IM“ als Konstruktion zur systematischen „Abschöpfung“ erwiesen hat. Sollte sich Stolpes Interpretation seines Verhältnisses zur Stasi durchsetzen, so würde jeder, der als IM geführt wurde und bei dem eine Verpflichtungserklärung nicht (mehr) auffindbar ist, zu Recht gleiche Behandlung fordern. Auch „Notar“. Auch „Czerny“.
Bei den routinemäßigen Überprüfungsanfragen des Öffentlichen Dienstes, der Gewerkschaften und eines weiten Kreises von Organisationen genügt in der Regel die Antwort „Positiv“, um den Überprüften um jede Einstellungschance zu bringen. Wie verhält sich eigentlich die Qualität der Informationen, die ein solcher Ex-IM durchschnittlich der Stasi brachte, zu den Informationen und Einschätzungen, mit denen Stolpe, der Nicht-Verpflichtete, den Sicherheitsdienst versorgte? Die Bemerkungen und Sottisen, die, oftmals als Zitate gekennzeichnet, von dem Konsistorialpräsidenten zu Tage kommen, waren für das SED-Regime in mehr als einem Fall von strategischer Bedeutung: Zeigten sie doch den realsozialistischen Machthabern, daß die Oppositionellen unter dem Dach der Kirche nur auf eingeschränkte Solidarität der Kirchenoberen zählen durften. Waren die gravierensten Aussprüche Stolpes von einem allzu diensteifrigen Stasi-Beamten erfunden wurden, vielleicht sogar um ihn, in scharfsinniger Antizipation des Endes der DDR, für künftige Zeiten zu belasten? Nicht ganz wahrscheinlich.
Wir stehen der gänzlich unhaltbaren Situation gegenüber, daß Aussagen von Stasi-Offizieren, wenn sie belasten, mit dem Hinweis auf die Vergangenheit des Zeugen abgetan, hingegen willkommen geheißen werden, wenn sie entlasten. So auch im „Fall Stolpe“. Sonderlich glaubwürdig ist es nicht, wenn sich heute ausgerechnet die Offiziere zu Wort melden, die kurz nach der Wende umfangreich Unterlagen der Staatssicherheit vernichtet haben. Daß die Stasi-Hauptamtlichen die Unwahrheit sagen, kann getrost unterstellt werden. Aber diese Unterstellung führt nirgendwo hin, wenn nicht gewährleistet wird, daß Lügen Konsequenzen nach sich ziehen. Die Gauck-Behörde muß umgehend in aller Öffentlichkeit die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Akten beantworten. Ihr muß dazu auch das Recht zur Zeugeneinvernahme eingeräumt werden, Falschaussagen müssen dann strafrechtlich geahndet werden. So könnte gerettet werden, was noch zu retten ist. Wolfgang Gast/Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen