: Eine böse Krankheit
Vergessen und wieder aufgelegt: Hans Leberts grandiose „Wolfshaut“ ■ Von Elke Schmitter
„Er legte den Kopf in den Nacken, sah in das knarrende Baumgerippe empor, und — wahrhaftig!: auch heute saß er dort oben, der Kutscher! der Wind! pfiff sein Lied und ließ die Peitsche in der Ödnis sausen. Erleichtert stellte der Matrose fest, daß er nicht auf ihn herniedersah, der Kerl. Der war zu stolz, von ihm Notiz zu nehmen; der hatte etwas Besseres zu tun: trächtiges Wolkenvieh hetzte er quer durch die Landschaft, welche, noch allenthalben getigert vom schmelzenden Schnee (vom zerfetzten Waffenrock des Generals), schon ungeduldig auf den großen Ausbruch wartete. Bebend lag sie schon da und spannte die Muskeln unter ihrem nassen Winterfell, unter fahlem, angepapptem Gras, das dunkel und schamlos zwischen den schmutzigen Uniformfetzen hervorsah; und er, der gewaltige Kutscher, das Maul voller Flüche, ackerte sie wieder einmal tüchtig um; und die Kühe und Rösser harnten bisweilen darauf, daß es dampfte und spritzte; der Matrose aber spielte bei dem allen keine Rolle.“
Vor gut dreißig Jahren erschien ein Roman über ein kollektives Verbrechen, das damals schon fünfzehn Jahre zurücklag, über das Gift, das es absonderte, über dessen Schwaden, die in die Gehirne zogen, um sie nicht mehr zu verlassen. Das Buch geriet in Vergessenheit, vergleichbar den Verbrechen, um welche die Erzählung kreist; es ist wieder aufgelegt worden und wichtiger, besser und wesentlicher als fast alles der letzten Jahre.
Hauptperson ist das Wetter. Arno Schmidt hat sich als einziger deutscher Erzähler der Nachkriegszeit des Wetters mit Innigkeit angenommen ... das letzte Refugium der grimmigen Atheisten für ihre Metaphysik, stolz und wortreich gegen die Pfaffen besetzt, die den Himmel trennen wollten von der Metereologie und zweitere der Abendschau überließen und dem ADAC-Straßenbericht, den deutenden Blick nach oben getrost den letzten Fischern und Wanderern. Der Österreicher Hans Lebert ist der zweite deutschsprachige Autor, der dieser Kunst verfallen ist, die auf ihre Art eine Überwindung des neunzehnten Jahrhunderts darstellt und dennoch hoffnungslos atavistisch ist: die Augen gen Himmel zu richten, ohne den lieben Gott zu suchen oder zu verfluchen, im Wetter zu lesen und jenen hilflosen Schauder zu beschreiben, der in Europa vielleicht nur noch die SizilianerInnen befällt, wenn der Ätna wieder einmal platzt ... und die Sprache an dem zu üben und zu bereichern, was jeden Tag neu und bis zur Wahrnehmungslosigkeit gewöhnlich ist, immer wieder den Beweis zu führen, daß der Mensch ein machtloser Anthropozentriker ist, einer, der nicht anders kann, als Zeichen zu lesen auch dort, wo es keine gibt. Ein Atavismus ebenfalls, weil es das Wetter für uns nicht mehr gibt — allenfalls die lästige Empirie des Regens und der Straßenglätte und des Smogberichtes, abgeleitete Formen und moderne Verformungen, späte Entschädigungen für die Zeit, da man noch über das Erntewetter reden mußte.
Der Roman spielt zu einer Zeit und in einer Gegend, da das Erntewetter noch Thema war. Es ist Nachkriegszeit, und man hat sich noch nicht so ganz daran gewöhnt. Es gibt die erste Musikbox im Dorfgasthof, die Burschen fahren Motorrad, und weit entfernt tagt etwas namens Parlament. Daß da ohnehin nur palavert wird, ist jedem klar, so bleibt man auf dem Dorfe verdrossen unter sich und pflegt die Defensivität, die schon im Krieg das Schlimmste verhüten half. Bis zur Folklore ist man kulturell nicht gekommen, es hängt nur ein Dirndl im Schrank; am Sonntag geht man in die Kirche, am Samstag in die Badewanne und freitags zum Frisör. Zwischendurch betrinkt man sich und argwöhnt der Zukunft entgegen: das alles ist von Raabes Else von der Tanne nicht allzuweit entfernt, obwohl der Dreißigjährige Krieg denn doch ein bißchen her ist. Man hat seine zwei, drei Außenseiter im Dorf, über die man notfalls schlecht reden kann, wenn es sonst nichts zu sagen gibt. Man hat so seine Geheimnisse, über die aber nicht mehr zu reden ist. Und selbstverständlich sind es die Außenseiter, welche die schweigende Ruhe stören, und naturgemäß muß man sich ihrer entledigen.
Das Wetter ist die Hauptperson in dieser brachialen Geschichte, weil es in seinen Dramatisierungen (bis hin zu Gewitter und Kältetod) die Entwicklung des Unglücks nicht nur begleitet, sondern auch initiiert. Das Unglück selbst, sofern es nicht schon passiert und begraben ist, liegt in weiteren Morden und der Erkenntnis, daß diese frischen Todesfälle mit dem verscharrten Gebein in einem Zusammenhang stehen, dessen Enthüllung unaufhaltsam ist. Die schreitet fort wie eine böse Krankheit, eine solche, der die Ärzte das Etikett „tückisch“ verleihen: ein langsames, gnadenloses, von getäuschter Erleichterung unterbrochenes Spüren der längst vollzogenen Totenfäulnis, die geduldig wartet, daß die Täter kommen. Alle Personen dieser Geschichte schauen wieder und wieder in den Himmel, die ganzen zwei Wochen lang, in denen die Krankheit fortschreitet, und alle stellen eines fest: Unheil droht. Sie werden erst eingeschneit, dann langsam eingeregnet, die Gegend um das Dorf verwandelt sich in Moder und Lehm, sie beginnt zu riechen und schließlich zu stinken. Der liebe Gott hat sich längst abgewandt; Zeichen senden nur noch der Wind, die Blitze, der Donner und der kraftlose, anhaltende Regen, die Mondfinsternis und das Sonnenlicht, das bis zum Irrsinn diverser Beteiligten bescheint, was über Jahre verdunkelt war.
Beschienen wird ein Verbrechen, von dem noch sechs Leichen zeugen und ein bleistiftgeschriebener Brief. Ein Verbrechen jener Art, wie sie in den Wochen des „Zusammenbruchs“, der „Niederlage“ ungezählt oft begangen wurden, als das chaotisierte Deutsche Reich den Einzelnen überlassen blieb und ihrer Disziplin und Feigheit, in denen Gewehre versteckt und Orden verscharrt und noch ein paar Menschen getötet wurden, nach denen niemand mehr fragen würde. Vor allem nicht in einer Gegend, in der man naturwüchsig zusammenhält — gegen die Fremden und die Städter, gegen die Gebildeten und die Beamten, gegen die neue Zeit abzüglich Fremdenverkehr und Telefon und Motorrad und notfalls gegen Demokratie und Abendland. In einer Gegend, wo einem das „Heil!“ und das „Sieg!“ am Stammtisch zwischen dem anderen schon einmal entfahren darf und der Heimatfilm schon immer in Sepia lief. Wo die Lehrerin morgens zum Frühsport die alten Lieder singt und die Dorfschönste nach Achselschweiß riecht, wo der Jägersmeister auf der Jagd gern mal daneben schießt und ein Geschlechtsverkehr und eine Schlägerei nicht immer recht zu unterscheiden sind. Wo der Rest der Welt der Feind ist, den man gemeinsam in die Jauche stößt, wenn er sich herwagt und per Pech noch stolpert. Wo einem Städter alle Träume von frischer Kuhmilch und sanften Hügeln zu Alpträumen geraten, die nur ein gewaltsames Ende nehmen können. Und wo ein paar verscharrte Leichen lange und gut ruhen. „An das Sterben ist man auch hierorts gewöhnt, jedenfalls eher als an das Denken“.
Die Tradition des bösen Heimatromans ist keineswegs arm. Thomas Bernhard hat in Frost jene üble, inzestuöse Beklemmung geschildert, die heute noch statthat in den verlassenen Gegenden Österreichs, wo der kostenlose Kalender des Autohauses der Bezirksstadt der einzige trostlose Schmuck in der Gaststube ist, wo die Fremden scheel angesehen werden und die Ansässigen scheel aussehen, wo jeder, der hinzukommt, schnell nichts anderes mehr will als fort; Oskar Maria Graf hat in seinen Erinnerungen die gedankenlose Brutalität der Dorfbevölkerung Bayerns beschrieben, die in der Enge akkumulierte Bösartigkeit, die sich in Langeweile und Suff entlädt, auch schon mal in Tier- und Menschenquälerei: Beide wußten, wovon sie sprachen, beide ließen alle Heimatrücksichten fahren. Hans Lebert hat einen derart bösen, dabei oft sardonisch komischen Heimatroman geschrieben und ein Naziverbrechen geschildert, ein fiktives und typisches. Daß es nahezu unmöglich ist, die Lektüre zu unterbrechen, liegt an der kriminalistischen Kunstfertigkeit, mit der die Enthüllung erfolgt. Daß man dennoch nichts überliest, dafür sorgt Leberts Sprache, die auf einem Niveau ist, das zu Drach, dem frühen Bernhardt gehört: 600 Seiten dessen, was man gemeinhin Weltliteratur nennt.
Hans Lebert: Die Wolfshaut .
Roman, 597 Seiten, gebunden. Mit einem Nachwort des Herausgebers Jürgen Egyptien. Europaverlag, 48 DM.
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