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Türkisch von der Adria bis China

Türkei setzt auf Unabhängigkeit der muslimischen ehemaligen Sowjetrepubliken  ■ AUS ISTANBUL ÖMER ERZEREN

Der türkische Premier Süleyman Demirel geriet anläßlich des Besuches einer Delegation aus der nordöstlichen Provinz Ardahan ins Schwärmen. Die Türkei sei der „Liebling“ der neuen Welt, die nach der Auflösung der Sowjetunion in die Moderne drängen: „Aserbaidschan, Armenien, Georgien — sie haben zwar Streitigkeiten, doch die werden sich legen. Dann die zentralasiatischen Republiken, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisien, Kasachstan und Tadschikistan: Von ihnen blickt die Mehrheit auf uns. Sie werden ihre Pforten öffnen. Eigentlich hat sich die Türkei bei gleichbleibenden Grenzen vergrößert. Eine Welt des Türkentums von der Adria bis hin zur chinesischen Mauer hat sich herausgebildet.“

Die außenpolitische Orientierung der Türkei ist ins Wanken geraten. Die Türkei, ein ungeliebter Zögling der Europäer und militärpolitisch ein in den weichen Unterleib der Sowjetunion vorgeschobener Arm des antikommunistischen Bündnisses Nato, ist nach dem schmachvollen Ende des kommunistischen Vielvölkerstaates fest entschlossen, in der großen Weltpolitik mitzumischen.

Großer Bruder aus Istanbul

Euphorisch berichten die türkischen Zeitungen, daß der Türkei ganz „natürlich“ die Führungsrolle unter den heute unahängigen moslemischen Turkrepubliken in der ehemaligen Sowjetunion zufalle. Ein reger diplomatischer Verkehr hat sich entwickelt. Nahezu alle Staatschefs der neuen Republiken waren in den vergangenen Monaten auf Staatsbesuch in der Türkei. Der türkische Außenminister Hikmet Cetin, ein Sozialdemokrat, der sich zur Zeit auf einer Rundreise durch Aserbaidschan und die zentralasiatischen Republiken befindet, spielt die Rolle des großen und gütigen Bruders: „Alle stellen Erwartungen an die Türkei. Sie haben gegen die Probleme einer Übergangsperiode anzukämpfen. Sie haben grundlegende Bedürfnisse, wie Weizen, Medikamente und Textilien. Sie wollen zum lateinischen Alphabet übergehen. Sie brauchen dringend Druckereien und Schreibmaschinen. Sie wollen zur Marktwirtschaft übergehen, doch sie haben keine Fachkräfte. Im Rahmen der Möglichkeiten versuchen wir ihre notwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Zum Beispiel werde ich 1.000 Schreibmaschinen mitnehmen, 200 für jede Republik.“

Die haben sicherlich nur symbolischen Wert. Doch längst haben türkische Unternehmer den neuen Markt entdeckt. Die Türkei wird bereits von ausländischen Firmen als Sprungbrett für den Kaukakus und Zentralasien angesehen. Joint-ventures sind angesagt. Bereits heute arbeitet der kanadisch-türkische Konzern Netas daran, daß aserbaidschanische Telefonnetz zu digitalisieren — ein gewaltiges Investionsvorhaben, das schon alsbald den Selbstwählverkehr zwischen dem aserbaidschanischen Baku am Kaspischen Meer und Istanbul ermöglichen soll. Die Ergebnisse einer Reise des „Vereins amerikanischer und türkischer Geschäftsleute“ Anfang Februar nach Aserbaidschan wurden in der Fachpresse gefeiert: Mehrere türkische Banken kündigten an, in Aserbaidschan Filialen zu eröffnen, der türkische Glaskonzern Sise Cam will für 40 Millionen US-Dollar eine schlüsselfertige Fabrik für Flaschenproduktion errichten, der US-Konzern Coconut Grove ins Tabakgeschäft und das Verlagshaus ABC ins Geschäft mit den Büchern einsteigen. Die Kaukasier sollen den Verlockungen des Kapitalismus nicht widerstehen, wenn die türkische Landwirtschaftsbank „Ziraat Bankasi“ Kreditkarten verbreitet. Die türkischen Unternehmer können in der Region als „Makler“ fungieren, merkte das 'Wall Street Journal‘ an. Selbst die staatliche türkische Lotterie will nicht abseits stehen. Ihre Lose sollen auch den Menschen in Aserbaidschan und Zentralasien Glück bringen.

Mit der Unabhängigkeit der moslemischen Republiken in der ehemaligen Sowjetunion wittert die von der EG gebeutelte Türkei die Chance, zur Regionalmacht aufzusteigen. Die Ablehnung der Vollmitgliedschaft der Türkei durch die EG hat viel dazu beigetragen, daß nun Aufbruchstimmung im Osten gewittert wird. Ganz typisch ist die Äußerung der ehemaligen türkischen Premiers Bülent Ecevit auf einem Vortrag in Berlin: „Statt vor den Toren der EG zu betteln, sollten wir die Kooperation mit den neuen Turkrepubliken vorantreiben.“ Außenminister Cetin glaubt, daß die neuen Aktivitäten der Türkei im Kaukakus und in Zentralasien die Bedeutung der Türkei für Europa steigern: „Ohne die Türkei kann weder das Problem der Sicherheit noch das der europäischen Einheit gelöst werden. Man kann über das östliche Mittelmeer, den Balkan, Kaukasien, den Nahen Osten, die alten Sowjetrepubliken und die Schwarzmeerregion nicht ohne die Türkei denken. Die Türkei ist in Europa außerdem am Schnittpunkt von Ost und West und von Nord und Süd. Getragen von der Verantwortung ihrer geopraphischen Lage will die Türkei eine wichtige Rolle spielen.“

Beim Besuch des türkischen Premiers Demirel bei US-Präsident Bush Anfang Februar waren die Turkrepubliken zentraler Gesprächsstoff. „Die Reise war ein Volltreffer“, merkte Demirel an. Sein 13-Punkte-Plan stieß bei den Amerikanern, die um jeden Preis eine Anlehnung der neuen Republiken an das Fundamentalisten-Regime in Teheran verhindern wollen, auf Sympathie. Der Demirel-Plan fordert die Umstellung vom kyrillischen auf das lateinische Alphabet, um die Integration dieser Gesellschaften in die internationale Staatengemeinschaft zu erleichtern. Die Privatisierung und der Übergang zur Marktwirtschaft müßten durch Investitionen gefördert werden. Die von den Sowjets eingeführte Trennung von Staat und Religion sei zu stärken. Die Koordination der westlichen Hilfe, die die neuen Republiken benötigen, sei der Türkei zu überlassen.

Längst hat ein Kulturkampf in den neuen Republiken eingesetzt. Während der Iran seinen Einfluß mittels des arabischen Alphabetes sicherstellen will, werben die Türken für die Latinisierung. Mit Erfolg: Aserbaidschan und Kirgisien haben den Übergang zum lateinischen Alphabet bereits beschlossen. Aserbaidschan hatte sich bereits in den zwanziger Jahren — noch vor dem Übergang der Türkei zum lateinischen Alphabet — für das Lateinische entschieden. Erst in der Stalin-Ära wurde das Kyrillische aufgezwungen. Kasachstan wird wahrscheinlich beim Kyrillischen bleiben, da fast die Hälfte der Bevölkerung Slawen sind. In Usbekistan ist noch nichts entschieden. Allein in Tadschikistan, wo die Bevölkerung persisch spricht, findet ein Übergang zum arabischen Alphabet statt.

Hinzu kommt, daß die Turkvölker Zentralasien — selbst die Tadschiken, die persisch sprechen — sunnitischen Glaubens sind. Mißtrauen gegenüber dem schiitisch-theokratischen Regime in Teheran herrscht vor. Die schiitischen Aserbaidschaner indes sind durch Sprache und Kultur der Türkei eng verbunden. Hinzu kommt, daß die türkische Diplomatie nach dem Ende der Sowjetunion forscher und geschickter agierte. Nicht der Iran, sondern die Türkei, die keine direkte Grenze zu den muslimischen Republiken aufweist, war es, die als erster Staat die neuen Republiken anerkannte. Deren Staatsspitzen, die fast bruchlos von der kommunistischen Ideologie zum Nationalismus übergegangen sind, sehen die Türkei als Modell eines muslimischen Landes, das erfolgreich den Weg in die moderne, westliche Zivilisation beschritten hat: Die Türkei als „Stern der Turkrepubliken“, wie es der turkmenische Präsident Saparmut Niyasov formulierte.

Der kasachische Staatspräsident Nursultan Nasarbajew sprach von der Möglichkeit einer türkischen Staatengemeinschaft: „Schließlich sind die Türken, die heute in der Türkei leben, die Enkel des Volkes, welches im neunten Jahrhundert aus Zentralasien auswanderte.“ Der türkische Kommentator Cengiz Candar weist indirekt auf das Beispiel der EG: „Wenn man durch Zentralasien reist, kommt man nicht umhin die Unterschiede zwischen Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Turkmenen und Tadschiken zu sehen. Doch wie leicht wiegen diese im Vergleich zu den Unterschieden zwischen Deutschen, Franzosen, Engländern und Italienern!“

Der Euphorie in der Türkei sind keine Grenzen gesetzt. „Wir dürfen den Zug nicht verpassen“, warnt der ehemalige Verteidigungsminister Barlas Dogu, der sich am Vorbild des römischen Imperiums orientiert: „Wie hat dieses große Reich, das von einer Handvoll Konsuln regiert wurde, trotz sprachlicher, religiöser und ethnischer Unterschiede die Reichseinheit hergestellt? Durch die römische Währung.“ Er fordert die sofortige Aufhebung der Zollschranken, der Visa und die Einführung einer Einheitswährung und eines gemeinsamen Fernsehprogramms. Schon bald sollen die neuen Turkrepubliken per Satellit türkisches Fernsehen empfangen können. Fernsehprogramme werden bereits heute ausgetauscht.

Ein turkmenisches Algerien?

Nicht wenige im Apparat des türkischen Außenministeriums beobachten kritisch die Stimmung, die die Öffnung der Türkei gen Osten im Ausland begleitet und zuweilen den Vorwurf einbringt, der türkische Imperialismus sei wiederauferstanden. Ganz wesentlich für die Türkei, so sagen sie im Gegenzug, sei die Verhinderung eines fundamentalistischen Regimes in den neuen Republiken. Eine solche Entwicklung sei vom Standpunkt der Türkei verhängnisvoller als die Etablierung des Khomeini-Regimes in Teheran: „Heute scheint in den Turk-Republiken an der Oberfläche alles ruhig“, sagt ein Beamter. „Doch die kleineren Aufstände in Turkmenistan nach Freigabe der Preise sind eine Warnung. Vor wenigen Jahren war auch in Algerien die Bevölkerung wegen der Brotpreise auf den Straßen. Es ist offenkundig, was sich seit dieser Zeit in Algerien ereignet hat.“ Die neuen Republiken dürften in ihren Erwartungen von der Türkei, die ihrerseits auf westliches Geld angewiesen ist, nicht enttäuscht werden, damit Fundamentalisten keinen Auftrieb erhalten, heißt es immer wieder.

Auch der türkische Premier Demirel ist sich der Schwierigkeiten bewußt: „Es gibt unzählige Ungewißheiten. Die Gefahr des Fundamentalismus. Die Aufteilung der Roten Armee. Die slawische Bevölkerung, die in den Republiken lebt. Grenzstreitigkeiten untereinander. Auf der einen Seite der Übergang zur Demokratie, auf der anderen Seite der Kampf um Brot. Viele Probleme, die die Quelle von Instabilität bilden können.“

Insbesondere der vom Bürgerkriegen zerrüttete Kaukasus, der der Türkei auch geographisch näher als Zentralasien liegt, macht den türkischen Politikern Sorgen. Demirel hat bei seinem Gespräch mit US Präsident Bush die Amerikaner ermahnt, nicht Partei für Armenien im armenisch-aserbaidschanischen Streit um Berg-Karabach zu ergreifen. „Falls die westliche Welt Armenien aufmuntert, kann es zu sehr negativen Ereignissen kommen. Dann entsteht hier ein neuer arabisch-israelischer Konflikt.“ Doch eine Vermittlung der Türkei lehnen sowohl Armenien als auch Aserbaidschan ab. „Karabach ist unsere innere Angelegenheit“, verkündete der aserbaidschanische Präsident Ayaz Muttalibov.

Die Bestrebungen der Türkei, zur Führungsmacht unter den Turk- Republiken aufzusteigen, werden von Armenien als Bedrohung empfunden. Zum Eklat kam es kürzlich wegen der alljährlichen stattfindenden Militärübungen der türkischen Armee nahe der Grenze zu Armenien. Die Armenier beschuldigten die Türkei, durch ihre Militärübung den aserbaidschanischen Truppen in Berg-Karabach Rückendeckung zu geben. Sofort dementierten die Türken. Der Sprecher des türkischen Generalstabes sagte, die Übungen stünden schon seit langem auf dem Programm und seien nichts besonderes.

Historische Alpträume werden wieder wach. Während des Ersten Weltkrieges inszenierten die jungtürkischen Herrscher ein Blutbad unter den Armeniern, die im Osmanischen Reich lebten. Einer der Hauptverantwortlichen, Enver Pascha, versuchte nach der osmanischen Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Turkvölker Zentralasiens gegen die Briten zu vereinigen. Der Panturanismus, die Vereinigung aller Turkvölker, sowie der Panislamismus, die Vereinigung aller moslemischen Völker, waren gegen Ende des osmanischen Vielvölkerstaates Ideologien mit beträchtlichem Einfluß unter den Spitzen des Staates. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg landeten sie auf dem Müllhaufen der Geschichte. Mit Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer des türkischen Nationalstaates, war eine grundlegende Abkehr von diesen Ideologien verbunden.

Ein moderner, laizistischer Nationalstaat, dessen Grenzen in Verträgen fixiert wurden, war danach das Ziel. Jeder Expansionismus wurde verurteilt. „Frieden im eigenen Land, Friede auf der Welt“ lautet eine Devise Atatürks, die heute noch türkische Schüler auf der Grundschule auswendig lernen müssen. Turkvölker im Ausland, zumal unter kommunistischer Herrschaft, waren Jahrzehnte für die türkische Außenpolitik ein weißer Fleck.

Neben dem Konflikt um Berg- Karabach verfolgt man in Ankara genauestens die Entwicklungen im aserbaidschanisch-iranischen Verhältnis. Die oppositionelle Volksfront, die nach den ersten freien Wahlen in Aserbaidschan die Regierung stellen könnte, strebt eine Vereinigung mit den im Iran lebenden Aserbaidschanern an. Ebulfez Alcibey, der nationalistische, anti-fundamentalistische Führer der Volksfront, der für Mustafa Kemal schwärmt, droht ganz undiplomatisch: „In fünf bis sechs Jahren wird der Iran zerstückelt sein. Wir werden uns mit unseren südlichen aserbaidschanischen Brüdern vereinigen und einen aserbaidschanisch-türkischen Staat mit fast 40 Millionen Einwohnern bilden.“

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