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Großarmenisches „Arzach“ oder Khanat „Daghlyg-Garabagh“?

Die Wurzeln des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes um Berg-Karabach reichen Jahrtausende zurück. Eine einzige objektive Wahrheit läßt sich dabei nicht ausmachen  ■ Von Erhard Stölting

Ähnlich wie der serbisch-kroatische Krieg wirkt der armenisch-aserbaidschanische ausweglos. In beiden Fällen sind die wechselseitigen Greuel so entsetzlich, daß ein friedliches Zusammenleben für mehrere Generationen ausgeschlossen scheint; der Haß ist nicht mehr rücknehmbar. Unklar ist in Transkaukasien gegenwärtig nur, wer wohin vertrieben wird.

Bis auf Berg-Karabach und Grenzstreifen zwischen den beiden Ländern haben die Armenier Aserbaidschan fast vollständig verlassen. Noch 1989 machten sie 6% der Bevölkerung aus — in Baku 10%. Allerdings gibt es auch keine Aserbaidschaner in Armenien mehr; 3% waren es noch 1989, vor allem Bauern.

Begonnen hatte dieser Konflikt 1987, als die armenischen Einwohner des Autonomen Gebietes Berg- Karabach, das zu Aserbaidschan gehört, den Anschluß an Armenien forderten. Sie begründeten ihre Forderung mit eklatanten Verletzungen ihrer kulturellen und politischen Rechte, mit dem offenbaren Bemühen der Regierung in Baku, Berg-Karabach von Armenien zu isolieren und mit deren Unterstützung einer massiven aserbaidschanischen Immigration, die die Armenier — damals 77% der Bevölkerung — zur Minderheit im eigenen Land machen sollte. Die Forderungen der Armenier in Berg-Karabach fanden in Armenien selbst ein breites Echo. Immer größer wurden die Demonstrationen in Eriwan, die den Anschluß forderten.

Die Aserbaidschaner reagierten entsprechend. Eine Falschmeldung, nach der Armenier in Berg-Karabach aserbaidschanische Jugendliche umgebracht hätten, löste einen Pogrom in Sumgait und Baku aus, bei dem Hunderte von Armeniern abgeschlachtet wurden. Das führte zu einer ersten armenischen Fluchtwelle aus Aserbaidschan, der sich bald auch Russen und Juden anschlossen.

Um die ethnischen Konflikte herum kristallisierten sich neue politische Strukturen. In Armenien wurde das „Karabach-Komitee“ zur nationalen antikommunistischen Massenbewegung, aus der sich dann der größte Teil des heutigen politischen Spektrums herausdifferenzierte. 1990 nahm diese Opposition unter Lewon Ter-Petrosjan in freien Wahlen den bislang regierenden Kommunisten die Macht ab. Das aserbaidschanische Gegenstück dieses Komitees war die „Volksfront“. Ihr gelang es jedoch nicht, den gewendeten Kommunisten unter Ajas Mutalibow die Macht zu entwinden. Immerhin drängten sie ihn auf eine kompromißlose Linie in der Karabach-Frage.

Seit 1988 herrscht mit variierender Intensität Krieg um Berg-Karabach und die Grenzregionen. Immer wieder blockierte Aserbaidschan die Versorgungswege nach Armenien. Immer wieder wurden Dörfer und Städte beschossen oder Menschen vertrieben und umgebracht. Die nationale Erregung, die Aserbaidschan Ende 1989 erfaßte, leitete im Januar 1990 in Baku zu einem neuen Pogrom über. Moskau verhängte den Ausnahmezustand und ließ 30.000 Armenier und Russen über das Kaspische Meer evakuieren, wofür eine Seeblockade des Hafens von Baku militärisch gebrochen werden mußte. Die große Zahl von aserbaidschanischen Opfern der sowjetischen Militäraktion trieb nahezu eine Million Demonstranten im Baku auf die Straße. Nicht nur in Armenien, auch in Aserbaidschan war die Sowjetunion fortan diskreditiert.

Die fortbestehende Sowjetunion und die Herrschaft Gorbatschows erwiesen sich bei alldem als ein mildernder Faktor. Denn jeder, der die Unsinnigkeit und Ausweglosigkeit des Konfliktes sah und beklagte, hatte immer noch eine Instanz, der er die Schuld zuschieben konnte. Gerade demokratisch gesinnte Armenier und Aserbaidschaner verwiesen immer wieder auf die Machenschaften des KGB, der Nomenklatura, Gorbatschows usw. Wenigstens in diesem Punkte konnten sie übereinstimmen. Als das sowjetische Zentrum im August 1991 verschwand und seine Funktion als Sündenbock nicht mehr wahrnehmen konnte, schwanden auch die letzten Hoffnungen auf Kompromisse.

Unversöhnlicher Historikerstreit

Aus Animositäten allein läßt sich der Krieg nicht erklären. Innerhalb der nationalen Denkform und ihrer Art, Geschichte zu verarbeiten, erscheint er jedoch unausweichlich. Denn ihr zufolge ist jedes Volk ein Rechtssubjekt und hat Anrecht auf sein eigenes Territorium. Zu diesem Territorium gehören:

— Erstens sein gegenwärtiger Umfang; das Vaterland ist unteilbar.

— Zweitens de jure jene Gebiete in den Nachbarländern, die mehrheitlich oder in großer Zahl von Angehörigen des eigenen Volkes bewohnt werden. Sollte zwischen dem eigenen Land und jenen Gebieten ein Streifen anders bewohnten Gebietes liegen, gehört es rechtmäßig doch dem eigenen Land; denn erstens sind solche Zwischenräume inkommod und zweitens haben sie irgendwann einmal bestimmt zum eigenen Land gehört.

— Damit ist auch der dritte Rechtsgrund benannt: Das eigene Land hat einen legitimen Anspruch auf jene Gebiete, die ihm einst gehörten und durch frevelhaften Raub oder fremde Einwanderung verlorengingen.

Alle drei Begründungsarten wurden auch im Falle Berg-Karabach vorgebracht. Die armenische Version betont, daß mehr als drei Viertel der Einwohner Berg-Karabachs Armenier sind. 1920 seien es sogar 95% gewesen. Diesen quantitativen Argumenten schließen sich historische an: „Arzach“, wie Berg-Karabach auf armenisch heißt, war seit Menschengedenken armenisches Gebiet. Zu dem Großarmenien aus der Zeit zwischen 189 und 160 v.Chr., auf das nationalbewußte Armenier besonders stolz sind, gehörten in Transkaukasien übrigens nicht nur „Arzach“, sondern auch das heutige Georgien und das heutige Aserbaidschan. Bis in die jüngere Vergangenheit habe in „Arzach“ das armenische Geschlecht der Arsaciden geherrscht. Hier habe sich das feudale Armenien länger gehalten als in Anatolien, wo die armenischen Feudalherren seit dem Mittelalter von muslimischen Herrschern verdrängt und die Armenier zu einem Volk von Bauern, Handwerkern und Kaufleuten wurden. Mit „Arzach“ verbinden sich Erinnerungen an die letzte vormoderne Souveränität.

Die aserbaidschanische Seite setzt andere Akzente. Daß es 1920 so wenig Aserbaidschaner in „Daghlyg Garabagh“ gab, habe daran gelegen, daß sie gerade von armenischen Truppen vertrieben worden waren; später seien sie wieder zurückgekehrt. Seit Jahrhunderten hätten, unabhängig von der Religion des jeweiligen feudalen Herrn, armenische Christen und Muslime hier zusammengewohnt.

Allerdings sei Garabagh ein altes muslimisches Khanat gewesen, seine Herrn meist muslimische Khane. Eine armenische Bevölkerungsmehrheit habe sich erst seit der russischen Eroberung 1828 herausgebildet. Ganz bewußt habe die russische Regierung Armenier aus Anatolien und Persien hier angesiedelt. Berg-Karabach an Armenien anzuschließen wäre also frecher Landraub durch eine zugewanderte Bevölkerung.

Teile der aserbaidschanischen Nationalbewegung haben noch eine weitere Begründung, an deren Ausarbeitung seriöse und kompetente Historiker beteiligt waren: Das gesamte Aserbaidschan, einschließlich Karabachs, habe einst den Namen „Albania“ getragen — nicht mit dem Albanien an der Adria zu verwechseln; die Albaner, ein genuin kaukasisches Volk, seien noch vor den Armeniern christianisiert worden. Zeugnis dafür seien die vielen altchristlichen Monumente in Karabach und Umgegend. Die Mehrheit der Albaner sei später durch erobernde Turkvölker sprachlich assimiliert und islamisiert worden; viele Bewohner Karabachs hingegen hätten einer analogen armenischen Assimilation unterlegen.

In Wirklichkeit handele es sich also bei den Aserbaidschanern und den Armeniern Karabachs um ein einziges, überfremdetes Volk. Mit ihnen hätte die aus Anatolien stammende Bevölkerung des heutigen Armenien nichts gemein.

Hinter der historischen Kompromißlosigkeit steckten aber auch Feindbilder, die unverzichtbar in die jeweilige nationale „Identität“ eingeschrieben sind. Angelpunkt der armenischen Bilder ist die Erinnerung an den Genozid von 1915, die die Türken als Mörder schlechthin fixiert hat. Die Türken haben für die heutige armenische Identität strukturell jene negative Bedeutung, die die Deutschen für die heutige jüdische Identität haben. Die Aserbaidschaner, die anders als die anatolischen Kurden an diesem Genozid von 1915 selbst nicht beteiligt waren, werden mit den Türken identifiziert.

Die pro-türkischen Sympathien der Aserbaidschaner haben sicherlich sprachliche und geschichtliche Gründe. Die Türkei war immer das Land, in dem Aserbaidschaner politisches Asyl und Gehör finden konnten; die Sprachunterschiede sind gering. Die anti-armenischen Aversionen der Aserbaidschaner haben, anders als die der Türken, Wurzeln in einer realen Diskriminierung: Nach der russischen Eroberung der Region 1828 bevorzugte die russische Regierung Armenier und machte die Muslime zu Untertanen zweiter Klasse. Mittels gezielter Bevölkerungspolitik sollten homogene christliche Regionen entstehen, Ausgangspunkt für weitere Eroberungen in Persien und Anatolien.

Verschärfend wirkte die antimuslimische Wut der zuwandernden Armenier aus dem Osmanischen Reich. Denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrieb die osmanische Regierung die Ansiedlung turkmenischer und kurdischer Nomaden auf Kosten der Armenier. Die jedoch übertrugen nach ihrer Flucht ihren Zorn auf die transkaukasischen Muslime, unter denen sie lebten.

Dem politisch-sozialen Machtgefälle entsprechend hatte das armenisch-aserbaidschanische Verhältnis eine koloniale Struktur: Die Armenier verachteten die Aserbaidschaner als kulturell minderwertig und barbarisch; im Konfliktfalle bekämpften sie sie mit Verachtung, Ekel und Angst — jenen Gefühlen also, die zivilisierte Herren immer haben, wenn sie nach unten schauen. Die Aserbaidschaner reagierten mit jenem haßerfüllten Ressentiment, das lange als hilflose Gleichgültigkeit erscheint, dann aber in entfesselte Grausamkeit umschlagen kann.

Aus dieser Mentalitätslage brach nach der ersten russischen Revolution von 1905 ein armenisch-tatarischer Krieg aus — die Aserbaidschaner wurden damals noch als „Tataren“ bezeichnet. Der Krieg lebte wieder auf, als sich die russische Armee nach der Februarrevolution von 1917 aufzulösen begann. Er setzte die anatolischen Massaker des Ersten Weltkrieges fort. Nun verjagten türkische und aserbaidschanische Verbände die armenische Bevölkerung aus Nachitschewan und armenische Verbände die aserbaidschanische Bevölkerung aus Sangesur, dem Landstrich zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan. Die auffällige ethnische Homogenität Armeniens verdankt sich den Vertreibungen dieser Zeit.

Für die „kollektive Erinnerung“ beider Völker wurden die wechselseitigen Pogrome prägend; jeder erinnert sich an die Greuel der anderen. Diese Vergangenheit ist seit 1987 zurückgekehrt.

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