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Vater, Mutter und zwei Kinder in einem Zimmer

Die Wohnverhältnisse in Rußland ändern sich auf lange Zeit nicht/ Wer keine Devisen hat, kann keine Wohnung auf dem freien Markt mieten/ Privatisierung läuft an: Tausche Auto, Marke „Wolga“, gegen Eigentumswohnung  ■ Von K.-H. Donath

Moskau (taz) — Dima arbeitet eigentlich als Kfz-Mechaniker, manchmal schickt ihn sein Chef auch auf die Straße, um wohlhabende Kundschaft auf Bestellung durch Moskau zu kutschieren. In einer Tschaika-Limousine, die früher dem Politbüro vorbehalten war. Alles in allem verdient Dima nicht schlecht und hat auch keinen Grund zur Klage. Natürlich möchte er mehr. Mit seiner Frau teilt er sich eine kleine Zweizimmerwohnung. Seit kurzem nun macht er in „Nedwischimost“- Immobilien. So ganz trifft der Begriff es nicht. Er verkauft zwar Häuser, nur ohne Grundstück. Ergattert er wiedermal einen Bausatz, heißt es, auf die Schnelle einen „bodenständigen“ Käufer finden. Regelmäßig treibt es ihm den Schweiß auf die Stirn. Denn wohin mit den Bauteilen? In seiner Zweiraumwohnung lassen sie sich nur mit Mühe zwischenlagern. Er verkauft Häuser, zu einer größeren Wohnung reicht es allerdings nicht.

Wolodja, erfolgreicher Broker an einer der größeren Moskauer Börsen, gehörte zu den ersten, die einen Antrag auf Privatisierung stellten. Seit November gibt es einen entsprechenden Erlaß des Moskauer Stadtsowjets. Die meisten der eiligen Antragsteller stammen aus Emigrantenkreisen. Sie vermieten ihr frisches „Eigentum“, um in der neuen Heimat, in Israel, den USA oder Deutschland ein wenig Startgeld zu haben. Die Anzeigenseiten der Zeitungen verraten es: „Nur gegen SKW“ liest man dort. Hinter der Formel verbirgt sich eine „Frei konvertierbare Währung“.

Für einen Durchschnittsmoskauer ohne Zugang zu Hartgeld liegen diese Mieten jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Nicht alle Wohnungen wurden zur Privatisierung freigegeben. Historisch erhaltenswerte Bauten, meist im Zentrum gelegen, sind davon ausgenommen. Ebenso die soliden Ziegelbauten der Stalinperiode. Doch der Großteil der Plattentrabantenstädte am Moskauer Stadtrand unterliegt keiner Beschränkung. Wolodja wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Einzimmerwohnung. Ein unerträglicher Zustand, der noch immer in Rußland zur Norm gehört. Häufig leben drei oder gar vier Generationen unter einem Dach auf 40 bis 50 Quadratmetern zusammen. Rücksichtnahme und Disziplin sind die Grundtugenden solcher „Lebenszwangsgemeinschaften“ und nicht zufällig bewahrte die Familie im russischen Alltag als Kristallisationspunkt allen Geschehens ihre hervorragende Bedeutung. Daß das allerdings in vielen Fällen nicht harmonisch verläuft, verraten die hohen Scheidungsraten. Nicht selten gleicht die Flucht zu einem neuen Partner der Suche nach großzügigeren Lebensverhältnissen.

Trotz Privatisierungsabsichten wird sich die Wohnsituation in absehbarer Zeit nicht ändern. Wie in allen Industriezweigen ging die Produktivität auch im Wohnungsbauwesen zurück. Im Gegenteil, noch enger wird es werden. Denn mit dem Zerfall der UdSSR strömen Hunderttausende Russen aus Zentralasien, Georgien und anderen Republiken in die angestammte Heimat zurück. Die meisten zieht es in die Metropolen, in der Hoffnung, dort auf bessere Lebensverhältnisse zu stoßen. Noch ein Faktor wird sich auswirken. Seit Anfang des Jahres dürfen sich alle Russen frei bewegen, dorthin ziehen, wohin sie wollen. Früher reglementierte der Staat rigide die Zuzugszahlen. Eine „Wohnberechtigungsschein“ für Moskau wurde hoch gehandelt, nicht selten gingen Paare allein aus diesem grund Scheinehen ein.

Wenn Wolodja seine kleine Wohnung auf seinen Namen überschrieben hat, geht die Odyssee für ihn erst richtig los. Schon die ersten Schritte waren nicht ganz einfach. Ohne Schmiergelder läßt sich selten etwas erreichen. Die 320 Rubel „Privatisierungsgebühr“ sind dagegen nur Kleingeld. Bewußt verschleppen die Beamten die Abwicklung, verlorene Zeit bedeutet für sie mehr Geld. Seit November haben von den zehn Millionen Moskauern erst 43.000 einen Antrag gestellt und ganze 7.000 wurden bisher bearbeitet. Der stellvertretende Bürgermeister Moskaus, Luschkow, drohte seinen Untergebenen, wenn derartige Praktiken ruchbar würden, drakonische Strafen an. Doch was bedeutet das schon? Um eine größere Wohnung zu kaufen, plant Wolodja seinen neuen Wagen Marke „Wolga“ zu verkaufen. Derzeit wird er mit 1,5 Millionen Rubel gehandelt. Das könnte knapp für eine Wohnung außerhalb des Zentrums reichen. Um etwas näher in Stadtnähe zu rücken, müßte er seine Einzimmerwohnung noch dazugeben. Derartige Tauschgeschäfte auch über dritte und vierte Ecken sind ganz gewöhnlich und füllen die schwarzen Bretter in vielen Moskauer Geschäften. Jeder Zwischenhändler verdient selbstverständlich noch etwas daran.

Schwierig steht es mit der Privatisierung der „Kommunalnejij“, jenen Gemeinschaftswohnungen, die nach der Oktoberrevolution die adäquate Ausdrucksform der neuen Lebensweise widerspiegeln sollten — die „Nowkombyt“, die „neue kommunistische Lebensform“. So berühmte Architekten wie Melnikow versuchten sich an Wohnkonzepten, in denen die Trennung von Privat und Öffentlich aufgehoben wurde. Antagonismen und Konkurrenz des bourgeoisen Seins sollten mittels Gemeinschaftsküchen, Speisesälen, Bibliotheken und Kinderkrippen auf ewig in die Geschichte verdammt werden.

Familien oder Paare besaßen meist nur einen Raum als privates Refugium, alles andere unterlag der Vergesellschaftung. Diese Arten der „Kollektivhäuser“ gingen von der Annahme aus, die Geld- Ware-Beziehung werde in der neuen Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Der auch damals schon akute Wohnraummangel verhinderte allerdings eine funktionale Nutzung. Und die politische Repression der Stalinzeit entdeckte die Familie wieder als die kleinste und ideale Keimzelle des autoritären Staates. Heute leben in diesen Häusern viele alte Menschen. Obwohl mit niedrigem Komfort möchten die meisten in ihnen wohnen bleiben. Denn im Gegensatz zu den Satellitenbauten gewähren sie trotz aller Dysfunktionalität ein Mindestmaß an Geselligkeit. Wenn alle Bewohner einer „Kommunalnaja“ zustimmen, können sie ihren Wohntrakt privatisieren. Jeder sein eigenes Zimmer. Das Klo wird gemeinschaftlich verwaltet.

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