: Zweitägiges Mammutprogramm
■ Ein Musiksupermarkt: Wenig Werkstattcharakter, vor allem Masse, manchmal auch Klasse beim diesjährigen Festival Neuer Musik im Ballhaus Naunynstraße
Klangwerkstatt trifft als Titel des alljährlichen Festivals Neuer Musik der Musikschule Kreuzberg nicht mehr so recht. Der Werkstattcharakter ist in dem durchorganisierten Programm kaum noch zu finden, man hat sich der gängigen Tendenz angepaßt, einen dreitägigen Musik-Supermarkt zu eröffnen. Samstag und Sonntag sorgten über achtstündige Konzertveranstaltungen im Ballhaus Naunynstraße für die nötige Breite des Angebots. Da konnte sich ein jeder herauspicken, was er mochte — oder aber kopfschmerzgeplagt Zwangspausen machen. Nicht wenige waren zu vorzeitiger Aufgabe gezwungen. Auch Vielfalt und Abwechslungsreichtum halfen da nichts.
Überraschend immerhin war am Sonntagsprogramm so einiges. Pulse, ein neues Schlagzeugquartett, widmete sich einem Stück des großen Misterioso Giacinto Scelsi und übernahm anschließend die Uraufführung von Symmetries on ?III des deutschen Komponisten-Jungstars Jacob Ullmann. Beide Stücke enttäuschten. Bei Scelsis langsam durchpulstem Stück mag es vielleicht an den Interpreten gelegen haben, waren die doch offenbar noch recht heftig mit Zählen beschäftigt und vergaßen darüber ein wenig die Musik. Etwaige ausgefuchste Klanglichkeiten verloren sich so zu rhythmisch akzentuierten Affekten. Ullmanns fünfteilige Komposition hingegen rekurrierte von vornherein auf traditionelle Schlagzeugpatterns, aus denen, abgesehen von ein paar überraschend hereinbrechenden Pausen, nichts entstand. Womöglich handelt es sich bei dem bereits 1986/87 geschriebenen Stück um eine Jugendsünde.
Roland Dahinden, ein herausragender junger Posaunist aus Basel, war gleich mit drei Stücken zu hören. Aus Helmut Zapfs Stück Posaunenklang machte er unterhaltsame Musik. Beeindruckend nicht nur das Ende, wo er, lose in sein Instrument blasend, Herbstwindklänge aus selbigem hervorzaubert.
Wie fruchtbar seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Peter Ablinger (zugleich Organisator der Klangwerkstatt) ist, bewies er mit weiteren zwei Stücken. Annahme 2C, eine Komposition, die lediglich eine einzige mehrmals unterbrochene Generalpause ist, soll das Empfinden erzeugen, sich mit rasender Geschwindigkeit in der immergleichen Kurve zu befinden — bei steter Gefahr, herausgeschleudert zu werden.
Das gelingt zwar nicht — die ewigen Pausen machen das Stück eher zu einer Schnurgeraden —, aber immerhin zeigt sich Ablinger einmal mehr als Komponist, der etwas wagt. Zumindest ungewöhnlich auch sein La fleur de Terezin für Posaune und zwölf Kassettenrecorder. Da spielt die Posaune fleißig Unspielbares, wozu jeweils sechs Kassettenrecorder kräftig rauschen und schnarren dürfen, ab und zu auch mal einen vorab aufgenommenen Posaunenklang von sich geben.
Einen eingeschobenen Gesangsteil gab es auch noch in der Klangwerkstatt. Von Gösta Neuwirth kamen einige Lieder mit vierhändiger Klavierbegleitung zu Gehör. Von Stefan Stoll folgte Beschwörung eines Engels für Mezzosopran und Klavier.
Besonders die Sängerin Elizabeth Neimann fiel durch ihre dramatisch durchgestaltete Interpretation auf. Durch sie gewann die komplizierte Interaktion zwischen Sänger und Pianist, der zum Beispiel bestimmte ins Instrument gesungene Töne der Sängerin mit der Resonanz des Flügels auffangen muß, eine weitere theatralische Dimension.
Die Musikschule Kreuzberg kann auf ihr in Deutschland wohl einzigartiges Lehrerpotential stolz sein. Auch der »Vater des europäischen Free-Jazz-Klaviers«, Alexander von Schlippenbach, unterrichtet dort und steuerte, gemeinsam mit Sven-Ake Johansson, dieses Jahr Schraubenlieder bei, die sich leider etwas in belangloser Dudelei verloren. Ein kurzes Solo Schlippenbachs entschädigte.
Bleibt die Frage, warum man die Mammutprogramm-Sucht internationaler Festivals kopiert. Einer am Ort ansässigen Musikschule müßte es doch leicht möglich sein, eine solche Anzahl von Konzerten auf eine Serie von Abenden zu verteilen — was letztendlich nicht nur dem Publikum, sondern sicherlich auch den Musikern zugute käme. Marc Meier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen