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Wegsehen, bis einer stirbt

Deutsche Jugendliche ziehen aus, einen Kumpel zu rächen. Am Ende haben sie einen gleichaltrigen Rumänen erschlagen. Geholfen haben alle, die die Augen zugemacht haben.  ■ AUS SAAL BETTINA MARKMEYER UND HENRIKE THOMSEN

Es gibt kein Kino in Saal. Das Dorf liegt im Dunkeln. Sie kommen mit sieben Autos und parken bei den Neubaublocks. HerrZ. begegnet dem Trupp auf dem Weg in die einzige Kneipe, das „Drei Mädel Eck“. Er kann die Gesichter nicht erkennen. Aber er sieht die Knüppel und Baseballschläger, die sie unverhohlen bei sich tragen. Und er sieht, daß welche vermummt sind. Ob das Kino schon aus sei, höhnt einer zu HerrnZ. herüber. Der Trupp zieht vorüber, die Schritte verhallen zwischen den Häusern. HerrZ. zieht die Kneipentür auf. Auch die Wirtsleute haben die bewaffnete Gruppe durch's Fenster gesehen. Sie lassen die Rolläden herunter. „Wir haben ja nicht gewußt, was die vorhaben“, sagt die Wirtin später. Doch sie bittet ihren OnkelZ., die Polizei anzurufen.

Der Trupp hat den Weg zur Dorfstraße genommen. Beim Haus von Wachmann Wahl biegen sie rechts ab, vorbei an „Liliane's Verkaufswagen“ auf der linken und der Poststelle auf der rechten Seite bis zum Haus des Tierarztes. Dort geht ein unbeleuchteter Plattenweg links ab ins freie Feld. Der Trupp marschiert die letzten 500Meter bis zur ehemaligen Radarstation der Sowjet-Armee. Dort hat das Ausländeramt des Kreises Ribnitz-Damgarten, der sich westlich von Rostock bis an die Ostseeküste erstreckt, 59 rumänische Asylbewerber untergebracht. Der Weg von den Neubaublocks bis zu den Baracken hinter doppeltem Zaun dauert eine Viertelstunde. Die Jugendlichen kriechen durch ein Loch im äußeren Zaun und treten den inneren nieder. Sie schleichen zu der ersten Baracke, in der sich in dieser Nacht nur wenige Flüchtlinge aufhalten und schauen in die Fenster. In einem Raum sitzen zwei Männer und eine Frau. Die drei sind völlig überrascht, als plötzlich John-PieterG., AndreK. und MichaelE. mit Baseballschlägern in der Tür stehen.

Kurze Zeit später liegt ein 18jähriger erschlagen am Boden — tödlich an Hals und Schläfe getroffen. Wie der Obduktionsbericht später ergibt, starb der Rumäne DragomirCh. aus Bistrita am Samstag, dem 14.März kurz vor Mitternacht an Gehirnblutung. Bis Sonntagabend wurden 21 Jugendliche aus der Umgebung festgenommen und verhört. Die drei Hauptverdächtigen sitzen in Untersuchungshaft. Gegen John-PieterG. lautet die Anklage auf schwere Körperverletzung mit Todesfolge, AndreK. wird der schweren Körperverletzung beschuldigt und alle Beteiligten des schweren Landfriedensbruchs. MichaelE. will alle Scheiben eingeschmissen haben, als die Bande abhaute.

Für den Leiter der Fahndung, Hauptkommissar Helmut Qualmann von der Rostocker Kripo, ist die Sache klar: Es handele sich um einen „Racheakt“ von Jugendlichen, der auf eine Kneipenschlägerei am vorherigen Abend zurückgehe. Dabei wurde ein Deutscher durch einen Messerstich verletzt. Die Polizei meint, die jugendlichen Schläger hätten das Asylbewerberheim gezielt nach dem Messerstecher durchsucht. Der, den sie dann erschlugen, war aber nicht der Gesuchte. Trotzdem will Qualmann unbedingt den Eindruck vermeiden, der Überfall sei rassistisch motiviert gewesen: „Es wäre schlimm für die Jungs, wenn es in diese Richtung ginge.“ Er versucht, die Jugendlichen in Schutz zu nehmen, doch ihre Brutalität irritiert ihn: „Wer mit einem Baseballschläger hantiert, muß wissen, was er tut. Damit kann man ein Pferd erschlagen.“

Aus den Aussagen der Jugendlichen ergibt sich für die Kripo folgendes Bild: Ein Rumäne verletzte am Freitagabend vor der „Flying Discothek“ in Petersdorf bei Ribnitz den 19jährigen Ralf Lübbemann* aus Barth mit einem Stich in die Hüfte. Deutsche und rumänische Jugendliche gerieten in eine Prügelei. Die beiden herbeigerufenen Polizisten konnten die Parteien nicht trennen. Sie ließen den Verletzten und weitere Opfer der Keilerei ins Krankenhaus bringen — eine Routineangelegenheit. Der Mann mit dem Messer entkam.

Aus der Sicht der Türsteher war es eine der üblichen Wochenend-Raufereien. „Hier drinnen ist nichts passiert“, winkt Barmann „Elvis“ ab. „Draußen haben sie sich dann mit den Kanacken geschlagen.“ Elvis wechselt ein Faß aus. „It's good to find a hard man“ raunt es von einem Schwarzweiß-Poster, auf dem sich ein Muskelprotz auszieht. Pin-up- Girls versprechen bonbonfarbene Romantik. Eine gigantische Videoleinwand verwandelt die ehemalige Dorfscheune in ein Musik-Kino. Der später verletzte Ralf Lübbemann bekam Freitagnacht zunächst nur mit, daß auf der Tanzfläche einige Rumänen „besoffen rumgenöhlt haben“. Als sich Deutsche beschwerten, hätten die Ordner vier Ausländer „rausgeschmissen“. Die Dorfjugend witterte eine Schlägerei. Ralf ging mit den anderen nach draußen, um zu sehen „was da abgeht“. Zwei Rumänen, erinnert er sich, standen auf dem Parkplatz erst fünf, dann zehn oder mehr Deutschen gegenüber. „Scheißasylanten, verpißt euch!“ schimpften welche. Was die Rumänen zurückschrien, „war auch nicht ohne“. Aber sie waren in der Minderheit. „Die hatten Angst“, sagt Ralf. Sie zückten ihre Messer. Als die beiden Rumänen wegrennen wollten, stand er ihnen im Wege. Ohne es recht zu bemerken, bekam er einen Stich in die Hüfte. Dann gerieten die übrigen Ausländer und die Deutschen aneinander. Ralfs Kumpel brachten ihn in die Disco zurück. Dem Messerstecher drohten sie mit Rache. Die Polizisten bekamen diese Drohungen entweder nicht mit oder maßen ihnen keine Bedeutung bei. Auch Kommissar Qualmann will die Klopperei nicht überbewerten: „Da pelzen sich irgendwo welche. Ein Wort gibt das andere, und dann geht das rund. Ich kann mich da gut 'reindenken.“ Der rundliche Mann mit den wachen Augen ist selbst in der Gegend aufgewachsen. „Ohne eine kräftige Rauferei auf dem Tanzboden war ein Samstagabend nichts Richtiges“, erinnert er sich. Daß die Deutschen Rache schworen, liegt für ihn allein an der Art der Verletzung. „Hier im Kreis hatten wir bisher mit Ausländerfeindlichkeit nichts zu tun. Skins gibt es hier auch nicht“, betont er.

Das erklärt jedoch nicht die Konsequenz, mit der die Jugendlichen ihre „Rache“ wahrmachten. Noch in der Nacht zum Samstag tauchten vier von ihnen am Asylbewerberheim in Saal auf. Sie waren mit einem Trabant dem Taxi gefolgt, in dem einer der Rumänen nach der Disco-Schlägerei davonfuhr. Weil sie ihn nicht erwischten, drohten sie wiederzukommen. Der Wachmann an der Pforte schrieb sich das Kennzeichen auf, unternahm sonst aber nichts. Am nächsten Tag organisierten die Jugendlichen den Überfall. Sie verschafften sich Knüppel, Baseballschläger und Autos, in denen die Polizei später auch Steine, eine Gaspistole und einen Feuerlöscher fand. Immer mehr, die nicht aus Ralfs näherem Umfeld stammten, schlossen sich dem Rachefeldzug an. Obwohl Ralf von mehreren Freunden im Krankenhaus besucht wurde, will er von dem Plan nichts gewußt haben. Doch selbst seinem Vater, der ihn mit seiner Frau am Nachmittag besuchte, war klar, daß an diesem Abend „etwas passieren würde“.

Das ahnten auch die Bewohner von Saal. „Alle im Dorf haben gewußt, daß die da hochgehen“, sagt die dunkel gelockte Verkäuferin in „Lilianes Verkaufswagen“. Sie hat einen guten Blick auf den Dorfkern mit seinen niedrigen roten Backsteinhäusern, in deren frisch umgegrabenen Vorgärten büschelweise Krokusse blühen. Die Männer, die bei „Liliane“ am Nachmittag Bier und Schnaps trinken, meinen sogar, daß „viele aus dem Dorf die gesehen haben“. Doch niemand versuchte, die Schläger aufzuhalten. Der Bürger Z. hatte die Polizei wegen Störungen im Telefonnetz nicht erreicht. Er verständigte statt dessen den diensthabenden Wachmann Wahl am Asylbewerberheim. Dieser rief um 23.10Uhr bei der Polizei an, ohne daß er bemerkt hatte, was sich in der Baracke siebzig Meter weiter abspielte. Eine Viertelstunde später traf die erste Funkstreife ein.

„Das waren nicht unsere Jungs“, behaupten die Männer vor dem Verkaufswagen. Für sie waren das „Skins aus Rostock“. Doch es waren ganz normale Jugendliche aus der Umgebung, die Dragomir in den Baracken von Saal totschlugen. Die meisten sind Lehrlinge, Schüler waren dabei und ein Arbeitsloser. Davon wollen die Männer nichts wissen. Sie waschen ihre Hände in Unschuld. „Wir hier im Dorf haben nichts gegen die da oben. Die sind oft zu uns runter gekommen und haben ihr Bier hier getrunken.“ Doch richtig reden mag keiner von dem Überfall. Schon gar nicht Wachmann Wahl. „Soll das ein Witz sein?“ brüllt er aus dem Fenster seiner Wohnung im dritten Stock. Und schlägt es gleich wieder zu: „Ich hab jetzt keine Zeit.“

„Das ist ja fürchterlich, daß das so eine Wendung nehmen mußte“, sagt Iris Lübbemann*, Ralfs Mutter. „Aber die drei Verhafteten kennen wir nicht“, wehrt sie ab. Um ihren Mund haben sich Enttäuschung und ein Leben voller Vorwürfe, aber auch Selbstmitleid eingefressen. Die Frau hat Angst vor dem Gerede in der Kleinstadt, fürchtet um die Familienidylle im mühsam erbauten Eigenheim. Als Grundschullehrerin sind ihr viele von Ralfs Freunden von Kindesbeinen an vertraut. Sie kennt die Familien, kennt die Jungen im Umgang mit ihrem Sohn und kann einfach nicht glauben, daß sie jetzt mit Knüppeln bewaffnet einen Rachefeldzug unternommen haben: „Wenn ich die hier so bei uns sehe, dann sind das für mich doch nur kleine Jungs.“ In der Stube der Lübbemanns in Barth ist von der Außenwelt nichts zu spüren. Die kleinen Fenster sind mit Gardinen verhängt, das Holz der Decke und der Möbel ist blank poliert. Das Steingutgeschirr steht wohlverwahrt in der Glasvitrine. Iris Lübbemann hängt an jedem Stück ihrer Einrichtung. Zu jedem kann sie eine Geschichte erzählen. Aber das begreifen, was am Wochenende passiert ist, kann sie nicht. Die ganze Wahrheit will sie nicht wissen. Die ganze Wahrheit ist, daß Ralfs Freunde zu denen gehören, die Samstagnacht losgezogen sind. Damit ist der Totschlag in der Ödnis von Saal ganz nahe gerückt. Die Gewalt hat das traute Eigenheim erreicht.

Ralfs Freunde sind in den letzten Tagen häufig bei Lübbemanns zu Besuch gewesen. „Die kommen jetzt und jammern“, sagt Karsten Lübbemann*. Stockend fügt sein Sohn hinzu, daß seine Kumpel inzwischen „das alles“ ziemlich „dumm“ fänden. Ralf wirkt wesentlich jünger, als er ist. Blaß und überfordert sitzt er mit seinen Eltern am Tisch. Ihn wollten seine Kumpel rächen, und dabei ist ein Mensch erschlagen worden, der kaum älter ist als er selbst. Daß selbst die drei Hauptverdächtigen dies nicht gewollt haben, glauben auch Polizei und Staatsanwaltschaft. Doch die minutiöse Planung des Überfalls und die Art der Bewaffnung sind ein Bekenntnis zu brutaler Gewalt. Das ist auch den Lübbemanns klar. „Das war vorbereitet“, sagt die Mutter, „ein organisiertes Ding“, bestätigen Vater und Sohn, die sich sehr ähnlich sehen. Sie sitzen dicht nebeneinander auf der Eckbank, der Mutter gegenüber.

Innerhalb eines Tages wuchs die Zahl derer, die sich an dem Überfall beteiligen wollten, auf die Größe einer Schulklasse. Ralf will nicht recht damit heraus, wie die Gruppe zusammengesetzt war. Erst sagt er, „die kannten sich doch alle“, und später, wie um seine Kumpel zu schützen, „die wußten ja gar nicht, wer da alles noch mitgekommen ist.“ Für den Vater waren zwei Sorten Jugendliche dabei: solche, „die nur auf einen Anlaß gewartet haben, um loszuschlagen“ und solche „die die Buchsen voll hatten“. Ihm ist aber klar, daß auch in Ralfs Clique schon viele zur Gewalt bereit sind. „Da sind einige bei, die unter Niveau sind.“ Er weiß auch um den Druck in solchen Gruppen: „Da will keiner als Feigling dastehen.“ Vater und Sohn wären am Samstagabend dabei gewesen, sagen sie — wenn der im richtigen Alter gwesen wäre und der andere nicht im Krankenhaus gelegen hätte. „Du hast bloß Glück gehabt“, sagt Karsten Lübbemann zu seinem Sohn. „Du bist ja jetzt fein 'raus“, meinen auch Ralfs Freunde. Sie sind zu keinem Gespräch bereit. „Sie wollen nicht als Verbrecher dastehen“, erklärt Ralf.

Aus den Schilderungen ihres Sohnes schließt Iris Lübbemann, die Polizei habe sich am Freitagabend „lax“ verhalten. Die Rumänen, die mit Ralf ins Krankenhaus zur stationären Behandlung gebracht wurden, habe man einfach laufen lassen. Sie sucht die Schuld vor allem bei den Behörden: „Wenn sich die Kripo an diesem Abend korrekt verhalten hätte“ — also den Messerstecher erwischt hätte — wäre es „zu alldem nie gekommen“. Hauptkommissar Qualmann hält dem entgegen, daß zwei Streifenpolizisten, die zu einer Schlägerei gerufen werden, fast immer überfordert sind. Familie Lübbemann will Strafanzeige wegen Körperverletzung erstatten und überlegt, gegen die Behörden vorzugehen. Gleichwohl sind die Eltern erleichtert. „Für den Chirurgen“, meint die Mutter, „war die Verletzung eine Lappalie.“ Allerdings nur, weil Ralfs Ledergürtel die Wucht des Stiches abfing.

Von einem jedoch versucht die Familie nicht zu reden: von den Minuten, in denen Dragomir unter den Schlägen starb. In die gute Stube von Barth dringt kein Hauch von dem Ostsee-Wind, der über die Äcker bei Saal weht. Weitab vom Dorf liegen die Baracken mitten im Feld. Drei Autowracks weisen wie Wegzeichen auf das Tor zu dem umzäunten „militärischen Sicherheitsbereich“. Rechts auf dem Acker sind die Fußspuren von Samstagnacht noch deutlich zu sehen. Wer auf das Grundstück will, muß an dem Pförtnerhäuschen vorbei, in dem der kalte Rauch von „F6“-Zigaretten steht. Die Wachmänner aschen in einen Blecheimer neben dem gelbbraunen Kachelofen. Hundert Schritte weiter liegt ein Berg Rohbraunkohle bei den Baracken. „Da oben ist die Welt zu Ende“, sagt Kriminalkommissar Qualmann. Hierher begleitete der 18jährige IonitaN. seinen Freund Dragomir zu einer Geburtstagsfeier.

Ionita wohnt in einem Asylbewerberheim in der Plattenbauwüste Lichtenhagen im Rostocker Norden. Seit Dezember letzten Jahres lebte hier auch Dragomir. Zwei der elfstöckigen Blocks sind den Ausländern vorbehalten. Hausfrauen balancieren ihre vollgepackten Einkaufstaschen zwischen den Autos am Straßenrand hindurch. Einige blonde Mädchen rauchen mit ausländischen Jungen auf dem Bürgersteig. Ionita unterhält sich mit anderen Rumänen auf der Eingangstreppe.

Er scheint noch unter Schock zu stehen. Seine Blicke und Gesten sind abrupt und unkontrolliert. Er spielt unbewußt mit den Schnüren seiner Jacke und zupft an der Schulter eines Freundes herum. Dagegen verrät sein Blick verhaltene Aggression. Trotz seiner Trauer begegnet er Fremden mit einer Mischung aus Mißtrauen und Berechnung. Einerseits könnten sie von den Deutschen geschickt worden sein, um ihn auszuhorchen, andererseits könnte er von ihnen erfahren, wo sich seine Feinde jetzt aufhalten. Dragomir und Ionita haben sich schon seit ihrer Kindheit gekannt. Sie sind in ihrem Heimatort Bistrita zusammen zur Schule gegangen. Dragomir ist häufiger in die „Flying Discothek“ nach Petersdorf gefahren. Am Freitagabend nahm er Ionita zum ersten Mal mit. Die beiden wurden offensichtlich in die Schlägerei auf dem Parkplatz verwickelt.

Ionita ist der Mann, den die Deutschen zusammen mit Dragomir und einer Frau durch das Barackenfenster im Zimmer21 gesehen hatten. In den Minuten, in denen die Gruppe in das Gebäude eindrang, ging das Mädchen auf den Flur. Dort traf sie auf die Schläger, die ihr den Mund zuhielten und ihr bedeuteten, still zu sein. „Ich kam von der Toilette zurück und stand wieder im Zimmer. Da bekam ich plötzlich die Tür ins Kreuz“, erzählt Ionita. Er versuchte, sich zu verstecken, doch die Deutschen waren schneller. Sie schlugen gleich zu. Ionita duckte sich und verbarg seinen Kopf in den Armen. „Sie trafen mich auf den Rücken. Hier“, weist er auf die Nierengegend. Dragomir sei von den Baseballschlägern am Hals und an der Schläfe getroffen worden. Die Staatsanwaltschaft weiß aus den Teilgeständnissen der Hauptverdächtigen, daß John-PieterG. und AndreK. auf Dragomir einprügelten. Aber keiner will den tödlichen Schlag geführt haben.

Ionita kann nicht erklären, warum Dragomir erschlagen worden ist. Er möchte vieles wissen: Was die Deutschen der Polizei erzählt hätten, ob ihnen der Prozeß gemacht werde. „Wo ist Dragomir jetzt?“ fragt er. „Was wird aus ihm? Werden sie ihn nach Hause bringen?“ Und: „Haben die nicht auch Eltern?“ Erst nachdem Dragomir tot war, lief das Räderwerk der deutschen Behörden an. Binnen 24 Stunden hatte die Rostocker Kripo alle Verdächtigen ermittelt und festgenommen. Kommissar Qualmann ist stolz auf die Fahndung: „Wir hatten die Sache im Griff.“ Um so erstaunlicher, daß die Behörden anschließend versuchten, den Überfall auf das Asylbewerberheim herunterzuspielen. Erst zwei Tage später, am Montag, informierten Polizei und Staatsanwaltschaft die örtliche Presse. Das Innenministerium in Schwerin verhängte eine Informationssperre. Noch am Mittwoch durfte niemand das Militärgelände in Saal betreten. Bereits am Sonntag hatte das Ausländeramt in Ribnitz-Damgarten die rumänischen Asylbewerber an einen unbekannten Ort gebracht. Der Ausländerbeauftragte des Kreises: „Es war ihr Wunsch, aus der Schußlinie genommen zu werden.“ Die Flüchtlinge werden aber in dieser Woche in die Baracken von Saal zurückkehren.

Sie werden wieder zu „Lilianes Verkaufswagen“ kommen und Bier holen, die Bewohner von Saal werden sie wieder erdulden, Ralf wird wieder zur Arbeit gehen, Helmut Qualmann wird sich dem nächsten Fall zuwenden, und der Staatsanwalt formuliert die Anklage. Ein 18jähriger erschlägt einen Gleichaltrigen, ein anderer hilft ihm dabei, viele andere kommen mit. Eine Gruppe nimmt Rache an einem Einzelnen. Einer hat ein Messer in den Rücken gekriegt, es hat eine Prügelei gegeben, Deutsche haben Ausländer beschimpft, Ausländer haben Deutsche beschimpft. — Überall haben welche zugesehen. Polizei und Schaulustige auf dem Disco-Parkplatz, Erwachsene bei der Vorbereitung eines „Racheaktes“, Dorfbewohner bei einem bewaffneten Aufmarsch, und die Mitläufer dabei, wie einer totgeschlagen wurde.

*Namen von der Redaktion geändert.

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