Der Sprache in die Gelenke gehen

■ Elke Erb rekonstruierte im Literaturhaus die Entstehungsgeschichte ihrer Textcollage »Winkelzüge«

Zwei Winkelbögen treffen sich in einem Punkt, die Seiten des stumpfen Winkels im unteren Quadranten ist mit »H« und »E« gekennzeichnet. Daß es sich hierbei nicht nur um eine mathematische Situation handelt, läßt sich an der unorthodoxen Benennung, ebensogut wie an der Einbettung in krakelige Notizen erkennen, die aus der Hand einer Dichterin stammen. An einem Overheadprojektor des Berliner Literaturhauses steht Elke Erb und rekonstruiert, wie die erste Seite ihres 1991 erschienenen Buchs Winkelzüge oder nicht vermutete, aufschlußreiche Verhältnisse entstanden sein könnte — unter Zuhilfenahme von Tagebucheintragungen, redigierten Manu- und Typoskripten. Eine höchst vertrackte Angelegenheit, wie sich zeigen soll...

Im Mai 1983 macht Elke Erb folgende Notiz in ihr Tagebuch: »1. Ich suche die Liebe, die mir fehlt. 2. Ich gebe die Liebe, die mir fehlt. 3. Ich habe die Liebe, die mir fehlt.« Was sie noch in einem Dreischritt zu ordnen, zu bewältigen versucht, mündet zweifelnd in der Frage: »Ich liebe, ich fühle nicht mehr wie gewohnt. Kann ich überhaupt noch reagieren?« Elke Erb liest diese Notiz stockend aber mit klarer Stimme vor, in ihrem Gesicht ist nicht Anteilnahme zu lesen, sondern der Wille, ein schriftstellerisches Problem zu bewältigen. »In meiner Prosa gab es nur eine Möglichkeit, sie zu verstehen. In den Erörterungen versuchte ich, diese Möglichkeiten auszuweiten.«

Ein Prozeß, der sich für Elke Erb über Jahre hinzieht, von der ersten Tagebuchnotiz 83 bis in den Herbst 89. Die Metapher, die diese Entwicklung begleiten wird, ist bereits in der ersten Eintragung angelegt: Es sind die aufgesperrten Schnäbel von Vogeljungen, die lyrische Entsprechung der oben beschriebenen Winkelbögen »H« und »E«, jene »Winkelalgebra, die die Liebe verhandelt.« Elke Erbs Blick verfängt sich — konkret oder imaginär — in der Anordnung der Schnäbel zueinander, den widerstreitenden Ansprüchen der Vogeljungen. »(Ver)hungern und Ersticken legen ihre unterschiedlichen (im Vergleich gegensätzlichen) Enden zusammen und sperren gleichzeitig denselben Schnabel auf«, heißt es schließlich auf der ersten Seite ihrer Winkelzüge.

Die Verkantung der Winkel im mathematischen Sinn soll aufzeigen, wie und wo sich — ohne aus dem Bogenmaß hinausfallen zu können — leben und schreiben läßt. »In der Not hat man keine Wahl», erklärt Erb. »Es ist eine Herausforderung, nicht davor auszuweichen, sondern auf die eigenen Ansprüche und Obsessionen zuzugehen, statt blockierte Lösungswege zu beschreiten.«

Elke Erb weiß sehr genau, daß sie einen Vortrag für Insider hält, die unendlichen Pfade der Selbstbezüglichkeit, der minimalen aber wesentlichen Begriffsverschiebungen kaum nachvollziehbar sind. Ihre Erklärungen sind akribisch (und tatsächlich ursprünglich für Graphologen) verfaßt, was darüber hinwegtäuscht, wie schnell sie die sprachlichen Ebenen wechselt, von mathematisch stumpfen Winkeln eher als Synonym für »in den toten Winkeln verirrtes Leben« spricht. Was Erb aber versucht, ist die Rekonstuktion ihres »prozessualen Schreibens«, die Beobachtung des eigenen Schreibverhaltens und der Textsituation.

Elke Erb ist in den siebziger Jahren durch Lyrik und Kurzprosa bekannt geworden. Später verfaßte sie prozessuale Erörterungen, übersetzte unter anderen Puschkin, Samjatin, Pasternak ins Deutsche. 1990 erhielt sie zusammen mit Adolf Endler den Heinrich-Mann-Preis von der Akademie der Künste der DDR. Über die Winkelzüge sagt die heute 53jährige: »Ich weiß auch nicht, wer dieses Buch lesen soll. Wer es genau tut, der braucht ja vierzig Jahre.« Mirjam Schaub