: Sind sie nicht bescheuert?
„Kreuz und Quer“: ein seltsamer Affären-Reigen als Uraufführung am Tübinger LTT ■ Von Christian Gampert
Zweimal mußte die Uraufführung von Kreuz und Quer bereits abgesagt werden: unter anderem deshalb, weil der Autor mit der Inszenierung nicht einverstanden war. Soviel Mut ist selten geworden: Wer kloppt sich als Jungdramatiker schon gern mit Intendanten, die ein unbekanntes Stück aufzuführen geruhen? Lukas Benedikt Suter also ist ein Schriftsteller der härteren Sorte, gelernter Schauspieler außerdem. Und genüßlich beginnt er sein Stück mit einer Premierenfeier: Kulturschicksen und Sprechblasenproduzenten scharen sich um einen Autor, man bespricht private Desaster und gibt höchst nebulöse Meinungen zu ästhetischen Ereignissen kund, und alles wartet auf den Regisseur, den Herrn und Meister, der natürlich nie kommt.
Man kennt die Situation: Du, also, hat mit echt gefallen, dein Stück. Also das hat ganz tief in mir etwas ausgelöst, irgendwie funktioniert das, wie du den Knoten dann zumachst, is 'ne echt schöne Arbeit, ne, wir müssen unbedingt mal länger drüber reden — und weg isser, der professionelle Kantinenmasturbateur, dem wir hiermit feurige Kohlen unter die Socken und drei Heftpflaster aufs Maul wünschen. Denn auch wir als völlig Unbeteiligte wurden abendelang derart geschädigt von jenem gottlosen Premierengeschwätz, bei dem der Normalsterbliche ständig nach dem nächsten Kotzkübel Ausschau hält, daß wir Lukas Suter schon für diese Eingangsszene unseren tiefempfundenen Dank abstatten.
Suters Komödie untersucht, umrahmt von jenem Vor- und Nachspiel auf dem Theater, die Flüchtigkeit von Liebesbeziehungen, von Gefühlsregungen in den achtziger und neunziger Jahren. Kreuz und Quer ist ein Nachbau von Arthur Schnitzlers Reigen, und als solcher ist das Stück perfekt. Es macht Spaß, das zu lesen, lauter wohlformulierte Bonmots, lauter präzis konstruierte Beziehungen, die wie beim Reißverschluß eine in die andere greifen.
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Und doch bleibt schon da ein Geschmack von Schalheit: Schnitzlers Stück war um die Jahrhundertwende ein Skandalon, weil es provozierend die Triebnatur des Menschen gegen die bürgerliche Konvention behauptete; die Verlogenheit der Schnitzler- Figuren besteht darin, daß sie Sexualität im Dunkeln erledigen möchten, ohne die Fassade der Honorigkeit abzustreifen — und das gilt bei Schnitzler fürs Ehebett wie für den Puff. Bei Suter dagegen ist dieser innere Konflikt aufgelöst zugunsten einer unendlichen Flachheit der Personen: Sexualität ist also so selbstverständlich, daß sie gleichgültig geworden ist. Man kann Gefühle heute wortreich belabern, aber man fühlt nichts mehr. Und vor allem: man leidet noch nicht einmal darunter. Angeblich.
Diese Zeitgeistdiagnose hat für den Autor einen immensen Vorteil: Suter muß sich nun nicht mehr an der Psyche von Figuren abarbeiten, sondern ihnen nur noch Sätze in den Mund legen. Die lesen sich vorzüglich: einserseits ist das eine köstliche Botho-Strauß-Parodie (jaja, diese falsche Innerlichkeit), andererseits hat man den Eindruck, daß Suter die Redakteure der bekannten Schülerzeitung 'Tempo‘ jahrelang am Telefon abgehört hat (der großspurige Dummejungen-Tonfall). Man blättert im Textbuch wie in einer bunten Illustrierten. Aber wenn dieser yuppieske Bundesdurchschnitt dann die Bühne betritt, werden zunächst (leider!) alle Befürchtungen wahr: Auf dem Theater gelten andere Gesten, andere Wahrheiten als in der gehobenen Boulevardpresse, und Suters Menschen stellen sich recht bald als Attrappen heraus.
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Der Schriftsteller besucht die Nutte — selbstredend nur aus Gründen der Recherche. Er: ein eitler Schwadroneur. Sie: eine pragmatische, ordinäre Anschafferin. Er kommt nach Hause zu seiner Lebensabschnittsgefährtin, einer Schauspielerin: Sie ist freundlich und milde und liebevoll- einladend, er ist nur müde und fahrig und aufgeblasen. Sie probt ein Stück mit einem lernfaulen Kollegen, der keinerlei Text kann, und die nonverbale Kommunikation endet auf der Garderobenliege. Der Schauspieler- Kollege hat eine Geliebte, sie ist Uni- Dozentin und kommt von weither, und er windet sich wegen seiner neuen Affäre. Die Dozentin nimmt wütend den Nachtzug und trifft einen gelackten Jungspund, und zufällig ist man allein im Abteil. Undsoweiter.
Dieser ganze erste Teil der Aufführung ist so angestrengt locker, so furchtbar witzig und tiefsinnig amüsant, daß man sich im Beiprogramm eines aufgeklärten Seniorentreffs wähnt. So sind sie, die jungen Leute von heute. Sind sie nicht bescheuert? Daß reale Beziehungen und Seitensprünge in dieser Gesellschaft ganz anders, mit mehr Einsatz und mehr Verletzungen ablaufen — das ist gar nicht der Punkt. Schlimm ist vielmehr, daß Suters Versuch einer Stilisierung zunächst in perlender Harmlosigkeit endet, nett und pflegeleicht. Auf einer bedeutungsgeil schrägen Ebene (um es neudeutsch zu sagen), die der Bühnenbildner Matthias Karch hinter einen schlundartig die Spielfläche umrandenden Rocky- Horror-Mund gebaut hat, zappeln lauter geschwätzige Menschlein, in deren Kauderwelsch ein einziges Bedürfnis erscheint: der Wunsch, unterhaltsam zu sein. Das ist das Grab.
Neueren Ansichten Rechnung tragend, machen in der Tübingen Inszenierung von Alexander Seer die Männer eine bei weitem kläglichere Figur als die Frauen: Der als begnadet verschriene Harry Nehring zum Beispiel muß abendfüllend zeigen, daß man auch in jungen Jahren ein alter Rampentiger sein kann. Kathrin Becker ist eine etwas zickige Intellektuelle, die forsche Ursula Reiter eine herausfordernd sprücheklopfende Nutte, und Sabine Martin hat ein großes Herz. Die Liebe ist zur Affäre geworden. Es geht um nichts, und deshalb geht man miteinander ins Bett.
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Und dann, nach dem Pausentee, geschieht ein Wunder: Der Jungspund, bei Suter „Fils à Papa“ geheißen, hat aus der Disco eine schreckensbleiche Alternativfrau abgeschleppt, eine „Todeskandidatin“. Nicole Marischka erscheint in einem pummeligen lila Sackpullover und fährt wirr mit den Händen durch die Luft, eine Figur aus dem Schattenreich der Szene, und auf einmal, im mißlingenden Begehren, im schiefgegangenen Aufriß, findet die Inszenierung ihr Thema und ein neues, langsames, geduldiges Tempo. Diese Szene-Frau eine Verzweifelte, eine, die man nicht mehr loskriegt, die stundenlang an der Haustür klingelt, die einem auf die Nerven fällt. Dieses plötzliche Einbrechen von Realität in die Welt der gepflegten erotischen Langeweile läßt all die vorangegangenen Episoden absolut lächerlich erscheinen. Plötzlich ist Sprache nicht mehr zum Verdecken da, kein Vehikel mehr, mit dem virtuos gelogen wird, sondern nur noch ein Stammeln und fahriges Bitten. Auch Stefan Bohne, der den genervten Abschlepper-Yuppie spielt, kann auf einmal hinter dem modischen Outfit eine Verunsicherung nicht verhehlen. Bohne und Marischka sind ganz junge Schauspieler, die im Ensemble eher strampeln müssen — hier zeigen sie, was auch Anfänger spielen können, wenn nicht immer ein Großer auf der Bühne danebensteht.
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Natürlich wird am Ende gestorben; Nicole Marischka, nachdem sie in der Großverdiener-Wohnung ausgiebig gewinselt hat, geht auf eine Brücke und will ins Wasser — und trifft dort einen kleinbürgerlich-dämonischen Ripper-Jack und Frauenaufschlitzer, einen wüste maskuline Stumpfsprache verbreitenden Zukurzgekommenen (Hubert Harzer spielt diesen Todesengel ganz still und brachial böse). „Hinterrücks findet das Leben statt“, erklärt er der Verzweifelten. Daß die potentielle Selbstmörderin nun leben möchte und im Sozialmodder fies gemeuchelt wird, ist auch sprachlich eine Wendung, die das gesamte übrige Stück als Finte erscheinen läßt: All das literarische Identitäts-Gelalle der ersten Szenen war nur Falle, Anlauf für einen kurzen, aber wirkungsvollen Niederschlag auf das Publikum. Statt auf dem Boulevard ist man nun bei Kroetz, der Fleißer und bei Horvath.
Leider findet dieser finale Punch erst nach fast drei Stunden statt. Bis dahin hat man von vielen Personen nichts erfahren; bis dahin war das Stück wie seine Figuren: halblebig. Ein Kabinettstückchen, das vor der Bühnenrealität in die Knie geht. Das Augenzwinkernde dieser Mittzwanziger- Affären hat auch etwas Spießiges: Wir unter uns. Am Ende, als Woyzecks kaltes Mörder-Messer blitzt, ist es dann fast ein Abenteuer. Suter, formvollendet, schließt den Kreis — der Frauenkiller geht dorthin, wo in der erste Szene der Schriftsteller war: zur Nutte. Die wundert sich und erzählt ihre Litanei. Und der Schriftsteller fragt sich, wie zu Beginn: „Ich denke — ja, was denk' ich eigentlich?“
Lukas B. Suter: Kreuz und Quer. Inszenierung: Alexander Seer, Bühne: Matthias Karch. Mit Harry Nehring, Nicole Marischka, Alexander Bohne u.a. Landestheater Tübingen. Nächste Vorstellungen: 22. und 30.April.
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