: Am Ende tanze ich wie ein Gespenst
■ Der Tänzer Kazuo Ohno (86) über den Tanz der Seele, über minimales Leben und tote Spermien
Kazuo Ohno, die „Seele des Butoh“, ist heute beim Butoh-Festival in Bremen zu sehen. Die taz fragte den japanischen Tänzer nach vielen letzten Dingen.
taz: Wie werden Sie erst tanzen, wenn Sie hundert sind?
Kazuo Ohno:(lächelt) Ich werde immer noch mehr weglassen; ich werde am Ende tanzen wie ein Gespenst. Übrigens sind japanische Gespenster nicht solche Monster wie hierzulande; sie haben nur allesamt keine Beine. Sie müssen sich vorstellen: Ich werde tanzen, als ob ich keine Beine mehr hätte.
Nun spart der Butoh ohnehin schon mit jeder Bewegung. Fürchten Sie nicht, vollends zu verschwinden?
Nein; es tanzt dann die Seele. Ob ich wirklich hundert oder hundertzwanzig Jahre alt werde, spielt da keine Rolle. Ich frage mich oft, wie ich wohl tanzen würde, wie ich tanzen werde, wenn ich tot bin. Im Grunde tanze ich jetzt schon, als wäre ich tot.
Das klingt dunkel.
Warum? Ich habe Familie, Enkel, ich habe meine toten Eltern und Großeltern. In ihrer Wärme tanze ich über den Tod hinaus.
Erinnern Sie sich gern an Ihre Anfänge?
Ja. Als ich ganz klein war, sah ich bei uns oft Truppen von wandernden Straßenkünstlern. Die meisten waren, wohl weil ihre hygienischen Verhältnisse entsetzlich waren, blind. Ein Ehepaar sah ich oft: die Frau machte Musik auf der japanischen Gitarre, der Mann erzählte und spielte dazu.
hierhin bitte
den Japaner
mit halblangem Haar
Kazuo OhnoFotos: Tristan Vankann
Diese Bilder vergesse ich nicht: Die Blinden, die trotz allem ihre Kunst machen, die Blinden, die spielen, als hätten sie kein Publikum, die singen nach innen.
Und der Tänzer Ohno?
Erst kam noch der Krieg; ich
mußte mit 24 an die Front. Dann bin ich Gymnastiklehrer geworden. Und 1929 ist es geschehen: Da saß ich im Kaiserlichen Theater von Tokio, ich saß im dritten Tang ganz hinten, und sah aus dieser Ferne eine Tänzerin; sie hieß Antonia Merce; man nannte sie „La Argentina“. Ich war wie vom Schlag gerührt. Sie hat mich zum Tanz gerufen. Später sah ich dann auch mal Mary Wigman mit ihrem berühmten „Hexentanz“. Ja, der deutsche Ausdruckstanz hat, sagt man mir, meine Bewegungen mitgeformt.
Aber wissen Sie noch, wie die Argentina getanzt hat?
Ach nein, das hab ich ganz vergessen. Sie hat wohl die Arme hochgeworfen und die Beine gestampft; aber das ist nicht wichtig. Sie hat einfach getanzt, als wäre sie ein Teil des Universums. Ich sah das und wollte das fortan auch. Als ich Anfang der Achtziger erstmals in Europa auftrat, kamen nach der Vorstellung einmal uralte Leute, neunzig Jahre und älter, zu mir und umarmten mich und weinten und konnten gar nicht darüber reden. Sie fühlten sich getröstet; und das allein hat mir dann recht gegeben.
Sie sind sehr spät zum Tanz gekommen. Haben Sie sich aufgespart?
Da war der Krieg, und hinterher wußte ich nicht weiter; ich wußte nicht, wie anfangen. Ich wußte nicht, wie tanzen. Zwanzig Jahre nach meinem Erlebnis mit „La Argentina“ hab ich's mit Modern Dance versucht: Ich tanzte von Hemingway den „Alten Mann und das Meer“. Aber danach habe ich wieder eine lange Pause gemacht. Das war's nicht. Erst als ich schon fast siebzig war, hab ich mein erstes Stück gemacht: „Admiring la Argentina“. Da wußte ich: Das ist in ihrem Sinn. Ich tanze es heute noch.
Seitdem tanzen Sie in Frauenkleidern. Haben Sie mit Antonia Merce zugleich die Frau in Ohno entdeckt?
In die Frauenkleider bin ich geschlüpft, weil mich ein Gedicht von Rilke hingerissen hat: Da sitzt unter einem Baum eine Schwangere und strickt an einem Söckchen für ihr Kind. So wollte auch ich sein: zurück in die Hülle der Mutter und zugleich ein neues Leben hervorbringen. Und ihm Söckchen stricken.
Im Mann die Frau, im Menschen der Fluß, im Tänzer der Stein: Butoh sucht in allem das Gegenteil und, weit erstaunlicher, es findet sich auch.
Warum denn nicht? Es gibt die Irrmeinung, der Tanz sei unbedingt etwas Menschliches. Dabei ist der Tanz auch den Tieren und Pflanzen eigen; allem, was lebt, selbst den zwei Steinen, die zusammenstoßen. Alles das finden
hierhin den
Japaner
wir in unserm Körper wieder: Dort fließt der Fluß und wächst der Baum und läuft das Tier.
Wird einem da nicht wirr zumut?
Daran ist so gar nichts Verrücktes. Wenn Sie so wollen, ist die ganze Natur voll von Tod und Wahnsinn. Millionen Spermien schwimmen so zielstrebig, und nur eine Zelle erreicht das Ei. Höchst verrückt und wunderlich. So ein minimales Leben, und doch so eine Energie. So kann man tanzen. Und was ist mit all den Samenzellen, die es nicht schaffen? Sterben Sie ab, überflüssigerweise? Nein. Sie lehren uns lieben. Interview: Manfred Dworschak
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