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Die tausendste Saite

Über Chen Kaiges „Die Weissagung“  ■ Von Michaela Lechner

Die Landschaft ist karg, voller Geröll. Bedrückend in ihrer Schönheit. Farbkontraste purzeln ins Bild. Der tiefblaue Himmel, sonnengelbe Berge, rote Tücher. Ein alter Mann mit bodenlangem Gewand zieht durch die Wüste, es könnte der Anfang eines Märchens sein.

Der alte Mann (Liu Zhongyuan) ist blind. Er wandert durch die Dörfer, erzählt Geschichten, spielt Sanxian und singt Balladen von einer besseren Welt. Obwohl der alte Mann nicht sehen kann, ist er der einzige, der sieht. Er sieht Kriege. Mann gegen Mann. Mit seinen Liedern, seiner Stimme kann er die rivalisierenden Clans beruhigen und Frieden bringen. Der Blinde hofft auf Erlösung. Heilung. Sehkraft. Er glaubt an die Weissagung. Wenn er die tausendste Saite der Sanxian mit seinem Spiel zum Zerreißen gebracht hat, wird sich im Bauch des Instruments ein Kästchen öffnen. Obwohl sich seine Hoffnung am Ende als Illusion entlarvt, wird er wissen, wie er wieder sehen kann.

Der alte Mann hat einen Schüler. Shitou (Huang Lei), der blind ist, aber nicht sehen kann. Und nie sehen wird, weil er nicht hofft. Er verliebt sich, lehnt sich auf gegen seinen Meister, die Traditionen, den Glauben an die Weissagung, bis ihm die Gesellschaft gewaltsam Schranken setzt. Shitou bedeutet Stein.

Die Weissagung von Chen Kaige entstand zwei Jahre nach dem blutigen Ende des Pekinger Frühlings. Verschüsselt und doch unübersehbar verweist der Film auf die chinesische Wirklichkeit zwischen Kulturrevolution und Demokratiebewegung. Verkörpert Shitou die neue Generation Chinas, die tradierte Werte- und Glaubenssysteme aufbricht und für ein selbstbestimmtes Leben kämpft? Der blinde, wie ein Gott verehrte Meister erinnert an Chinas „blinde“, überalterte Patriarchenriege. Würde er seine Stimme nicht erheben, um immer wieder für Gewaltlosigkeit einzutreten. Eingebettet in ein komplexes, für den europäischen Blick fremdartig wirkendes Metaphernnetz verweigern die Figuren jedoch hartnäckig eindeutige Interpretationen. Die Weissagung ist auch ein zeitloses Märchen, ein Gleichnis über Blindheit und die Sehkraft der Träume.

Chen Kaige: Die Weissagung. Mit Liu Zhongyuan, Huang Lei, Xu Qing, China 1991, 120 Minuten, Farbe.

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