■ ARTUR, BERLINIOD: Es ist leichter, draußen zu bleiben als auszusteigen
Zu Briefmarkensammlern, Modelleisenbahnern und insbesondere zu diesem Ganzen und Großen aus Klebstoff, Balsaholz und Basteln hat Artur ein gebrochenes Verhältnis. Die Eisenbahnen im wirklichen Leben sind spannender für ihn, behauptet er, vor allen Dingen die kleinen Bahnhöfe auf dem Lande, im Grünen.
Und da die Wohnungsmisere in Berlin immer entsetzlicher, die Hausbesitzer immer dreister und die Makler noch krimineller werden, begab er sich auf die Suche. Was des einen Reichs- ist des anderen Bundesbahn: Die Immobilien-Abteilung der Reichsbahndirektion Berlin jedenfalls residiert jetzt in der Ruschestraße, Sprechzeit dienstags bis 14 Uhr oder telefonisch.
Artur hatte sie angeschrieben, meine Damen und Herren, und suche ich 1 stillgelegten kleinen Bahnhof in oder bei Berlin zum Wohnen, Arbeiten und Leben in Würde und Anstand. Und da sich alles wendet und dreht, vergingen lange Monate, bis doch ein Antwortschreiben eintraf, ein erstes, mit der Bitte, Artur möge sich bei weiteren Schriftwechseln auf das angegebene Aktenzeichen beziehen, man habe einen Vorgang angelegt und würde unaufgefordert wieder von sich hören lassen. Dann, drei Monate später, kam das erste Angebot, ein Barackengelände, da wo verschiedene Gleise in Friedrichsfelde einen Zwickel bilden, zubetoniert und von atemberaubender Häßlichkeit. Und von morgens bis abends Schienenverkehr.
Nichts für Artur, auch nicht zu mieten oder zu pachten, und er sagte höflich, aber bestimmt unter Angabe seines Aktenzeichnes ab, nicht ohne darum zu bitten, ihn weiterhin berücksichtigen zu wollen.
Mit Erfolg. Wieder nach Monaten kam das neue Angebot von der Immobilien-Abteilung des Reichsbahndirektion Berlin-Brandenburg. »Das hört sich aber gut an!« sagte Zora gespannt, nachdem sie den Brief gelesen hatte, »ein stillgelegter Bahnhof bei Belzig, zwei Gebäude, ein Schuppen und Gartenland, nicht schlecht!«
»Erst prob's, dann lob's«, meinte Artur vorsichtig, legte eine Landkarte auf den Tisch, und sie suchten gemeinsam einen Weg durch Wälder und Auen. Den Zusatz »bedarf unumgänglich einer Instandsetzung und Renovierung« hätten sie fast überlesen vor Aufregung. Sonntag dann fuhren sie los, unbewachte Phantasien in den Herzen und genossen die Brandenburger Landschaft. Auf dem platten Lande bei Belzig fanden sie keinen Weg mehr durch die Wälder, und ein tückischer Dörfler schickte sie in die völlig falsche Richtung. Man darf nie und nirgends auf der Welt mit einer Handbewegung irgendwohin auf das ersehnte Ziel deuten. Die nicken und sagen freundlich jaja, und man fährt vollständig in die Irre.
Der Feldweg neben den Gleisen führte dann zu den Bahnhofsgebäuden, mitten im Wald. Artur und Zora standen fassungslos vor einem Werk idiotischer Zerstörung: herausgerissene Dachpfannen, sämtliche Fenster eingeschmissen und die Dielen in den Räumen herausgehebelt und allüberall hingeschissen, als anschwellendes Pfeifen die Luft erfüllte. Fünf Meter vom Fenster des ehemaligen Bahnwärterhäuschens donnerte der D- Zug Berlin-Leipzig vorbei und ließ die Erde beben. Zora hob die Brauen, zuckte mit den Schultern und sagte fröhlich: »Laß fahren dahin, Artur!« Clemens Walter
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