: Auf dem Wasser zu lesen
■ Dampferfahrten mit der Geschichtswerkstatt zu Berlins literarischen Höhepunkten
Literatur, Berliner Gewässer, Kaffeefahrten — paßt das? Keine deutsche Stadt ist in so vielen Gedichten und Geschichten beschrieben worden wie Berlin. Dies alles in einen Topf geworfen, einmal umgerührt und dann serviert: So präsentiert die Berliner Geschichtswerkstatt seit einigen Jahren ihre »Litera-Tour«, eine Stadtrundfahrt mit dem Schiff, bei der Lyrik, Prosa, Gassenhauer und Rockmusik den Ton angeben. Der Weg ist durch Spree und Landwehrkanal vorgegeben. Dies produziert zuweilen harte Gegensätze aus 200 Jahren Berliner Literaturgeschichte. Zum Beispiel die Sprüche der großen Demonstration vom 4. 11. 1989 auf dem Alexanderplatz gleich hinter den Worten des Philosophen Voltaire, der häufig Gast des preußischen Königs Friedrich II war.
»Dampferfahren« nennen die Berliner ihr Sonntagsvergnügen auch heute noch, obwohl die Dampfschiffe längst abgelöst sind von mehr oder weniger stinkenden Schiffen mit Dieselmotoren. Die traditionelle Anlegestelle der Berliner Ausflugsschifffahrt an der Jannowitzbrücke ist nach dem Mauer-Diepgenbruch seit zwei Jahren wieder in Betrieb. Franz Hessel, der Berliner Flaneur in den Zwanzigern, der 1938 nach Frankreich ins Exil ging, hat seine Erlebnisse mit der Ausflugsschiffahrt treffend beschrieben. Berliner sind ja immer so hilfsbereit und freundlich!?
Hessel, ein exzellenter Übersetzer von Balzac, erhielt 1933 Schreibverbot. Im Exil in Frankreich wurde er zu Beginn des Krieges im berüchtigten Lager Les Milles interniert. Dort starb er 1941. Ein anderer Flüchtling aus Deutschland, Kurt Tucholsky, kommt ebenfalls zu Wort. In der Lübecker Straße 13, unweit der Spree geboren, hat Tucho auch ein Jahr lang direkt am Wasser, Holsteiner Ufer 46, gewohnt.
Nicht weit entfernt, wo die Kongreßhalle (jetzt Haus der Kulturen der Welt) steht, lebte von 1847 bis 1859 Bettina von Arnim. Bei ihren Kaffeekränzchen versammelte sie bekannte Oppositionelle um sich. Zu einer Zeit, als kaum jemand daran dachte, setzte sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Mit ihrem bekanntesten Werk »Dieses Buch gehört dem König« griff sie Friedrich IV an und forderte statt einem Dom in Berlin Hütten für die Weber in Schlesien.
Musik gibt's auf der Fahrt mehrfach. Auf der Weidendammer Brücke hat sich nicht nur Theodor Fontane am 8. Dezember 1845 verlobt, Wolf Biermann hat auch über die beiden am Geländer hängenden eisernen Adler sein Lied über den »Preußischen Ikarus« gemacht. Mit dem Stacheldraht war's dann am 9. November 1989 zu Ende. Das Ende hatte die DDR-Rockgruppe Silly allerdings schon im Frühjahr 1989 gesehen. Ihr Text vom Untergang des »gebrauchten Narrenschiffs« muß sich wohl seinerzeit im Nabel an der Zensur vorbeigemogelt haben.
Wollen wir nicht hoffen, daß der Kahn der Litera-Tour untergehen wird und die Fahrgäste am Landwehrkanal doch noch Günter Bruno Guchs Gedicht von den Kanalpennern kören können:
Lied der Kanalpenner
Der Kanal hat Dampfer und
Ladekähne.
Der Kanal hat Fischkähne auf seinem
Rücken.
Der Kanal hat eine Wasserleiche im
Herzen.
Das Herz ist das Schauhaus.
Der Kanal hat einen Schuster
geschluckt.
Der Schuster macht Schuhe für den
großen Fisch.
Jürgen Kerwelat
Litera-Tour der Berliner Geschichtswerkstatt am 26. 4. um 14.30 Uhr ab Hansa-Brücke, Levetzowstraße (Tiergarten), weitere Fahrten auch zu anderen Themen: 10. 5., 24. 5., 7. 6. usw. Karten zum Preis von 17 DM im Laden der BGW, Goltzstraße 49, Schöneberg, U-Bahn Eisenacher Straße, freitags 15-18, samstags 10-12 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen