: Der Tanz der schwarzen Vögel
Der afrobrasilianische Kampftanz Capoeira macht als „Sport der Sklaven“ Karriere, doch ausgerechnet die Afrobrasilianer profitieren kaum davon: Zu geringe Bildung für den Lehrerjob ■ Aus Rio de Janeiro A. Prange
Der Holzfußboden der Turnhalle riecht nach Schweiß. Das blecherne Rasseln aus dem Kürbis des brasilianischen Rhythmusinstruments Berimbau heizt die elastischen Bewegungen von zwei kämpferischen Tänzern an. Radschläge, Saltos und Kopfstände schweben so leicht wie Synkopen über den gleichbleibenden rhythmischen Impuls hinweg. In der Hocke, von einem Bein aufs andere wiegend, beobachten die beiden Akrobaten jeweils die Haltung ihres Herausforderers. Nach einem kurzen Schlagabtausch tritt ein neues Paar in die Runde.
„Capoeira ist mehr als ein Sport, es ist eine Lebenseinstellung, eine Therapie“, erklärt Mestre Boneco, der in der Turnhalle im Neubauviertel Barra in Rio de Janeiro zweimal pro Woche 40 Schüler trainiert. Rund fünf Millionen Brasilianer, davon zehn Prozent Frauen, haben sich bereits der faszinierenden Mischung aus Angriff und Verteidigung, Tanz und Gesang, Rhythmus und Akrobatik ergeben. „Capoeira verleiht einem die nötige Flexibilität, die man im Leben braucht. Durch die Fähigkeit zur Selbstverteidigung verschafft man sich Respekt, und gleichzeitig lernt man, seinen Gegner zu respektieren“, meint der 29jährige Capoeira-Meister.
Mestre Boneco, mit bürgerlichem Namen Beto Simas, ist einer der wenigen Athleten, denen es gelingt, seinen Lebensunterhalt in Brasilien ausschließlich mit dem Unterricht von Capoeira zu bestreiten. Bereits acht seiner ehemaligen Schüler verbreiten in Rio den von ihm ins Leben gerufenen Stil „Capoeira Brasil“. Viele der jungen geschmeidigen Sportler jedoch haben den Kampf gegen die brasilianische Wirtschaftskrise aufgegeben und versuchen ihr Glück im Ausland.
Mestre Camisa, einer der bekanntesten Capoeira-Meister Brasiliens, warnt jedoch davor, vor lauter Geldgier die Koffer zu früh zu packen: „Es gibt Capoeira-Anfänger, die nach Europa kommen und meinen, sie könnten schon alles. Es ist gut möglich, daß sie auf einen ,Gringo‘ treffen, der ihnen etwas vormacht.“ Der 40jährige Mestre aus dem Bundesstaat Bahia, der Wiege des Capoeira, veranstaltet Workshops in Europa, wo der brasilianische Sport bereits 2.000 Anhänger zählt.
Auch geistig und körperlich behinderte Jugendliche begeistern sich für die rhythmischen Leibesübungen. „Capeoeira diskriminiert nicht. Alle lassen sich von dem Spiel einfangen, ohne den anderen auszunutzen“, schwärmt Capoeira-Lehrer Mestre Vieira. Drei Monate lang unterrichtete der 31jährige eine Gruppe von 120 Behinderten in Rio. Die integrierende Kraft des Sports gleicht einer Gruppentherapie.
Im Gegensatz zu anderen Kampfsportarten ist Capoeira hauptsächlich auf Verteidigung ausgerichtet. Die oberste Devise lautet „Heiße Füße, kühler Kopf“. Die Kunst der akrobatischen Abwehr, die die afrikanischen Sklaven in die ehemalige portugiesische Kolonie mitbrachten, besteht darin, niemals mit den Händen, sondern nur mit den Füßen die Schläge des vermeintlichen Gegners abzufedern.
„Schlage niemals einem Menschen ins Gesicht, niemals“, bleut Mestre Boneco seinen Schülern in Barra ein. Und mit der Gelassenheit des Stärkeren fügt er hinzu: „Solltest du dich wirklich einmal verteidigen müssen, mache dir dabei nicht die Hände schmutzig, benutze deine Füße.“
Die Weisheit gestandener Capoeira-Meister aus Bahia, die Mestre Boneco an seine Schüler weitergibt, gehört zu der über hundert Jahre alten Tradition. Um den Peitschenhieben der Sklavenhalter zu entfliehen, rollten sich die verschleppten Afrikaner auf den Boden, schlugen Purzelbäume oder wichen sprunghaft zur Seite aus. Die Verteidigung mit dem bloßen Körper verlangte ein außerordentliches Reaktionsvermögen sowie akrobatische Gelenkigkeit.
Vielen Sklaven gelang durch diese Täuschungsmanöver die Flucht. Sie versteckten sich in den nahegelegenen Wäldern und gründeten dort unabhängige Kommunen, genannt „Quilombos“. Woher der Name Capoeira stammt, ist umstritten. Die einen glauben, die niedrigen, gerodeten Buschwälder an der Küste Brasiliens, in portugiesisch „Capoeira“ genannt, verliehen dem Sport seinen Namen. Doch Capoeira beschreibt in der Sprache der Tupi- Indianer, der eigentlichen Ureinwohner Brasiliens, auch eine in den Wäldern lebende Vogelart, die beim Balztanz erbitterte Kämpfe ausfechten. Auch alte Capoeira-Texte sprechen von einem schwarzen Vogel, wenn sie einen Kampftänzer beschreiben. Tatsächlich erinnern die Bewegungen der Capoeira nicht nur entfernt an jene balzenden und kämpfenden Vögel.
Den Herrschaften entging der politisch-soziale Sprengstoff dieser Leibesübungen selbstverständlich nicht. Sie erwirkten ein Verbot, das erst unter dem populistischen Präsidenten Getulio Vargas (1930-1945), der Capoeira als „einzigen nationalen brasilianischen Sport“ feierte, wieder aufgehoben wurde.
Das Verbot hinderte die Skalven jedoch nicht daran, den Sport weiterhin auszuüben. Sie verwandelten die gefürchtete körperliche Ertüchtigung mit Hilfe von robusten Rhythmusinstrumenten wie Tamburin, Berimbau und Trommeln sowie Gesang in einen Tanz. Viele der damals entstandenen Strophen, die von der harten Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen erzählen, werden noch heute gesungen — einzige Erinnerung an Brasiliens vergessenen Blues.
Der brasilianische Blues namens Capoeira ist zur Zeit groß in Mode. Präsident Fernando Collor will, daß in jeder der 500 Ganztagsschulen, genannt Ciac, die während seiner Amtszeit gebaut werden sollen, Capoeira unterrichtet wird. Die großen Universitäten des Landes bieten Sportstudenten bereits Seminare über Capoeira an. Doch die Institutionalisierung der Kultur der Unterdrückten hat einen Haken: Die Capoeira-Meister, die aus armen Verhältnissen stammen, profitieren von dieser Entwicklung kaum.
In Rio de Janeiro zum Beispiel brachten 24 Capoeira-Lehrer rund 2.000 Kindern in öffentlichen Schulen und Elendsvierteln (Favelas) fünf Jahre lang den Sport näher. Angesichts des großen Erfolgs des Projekts will die Stadtverwaltung nun Capoeira in den Stundenplan aufnehmen und den Lehrern einen regulären Arbeitsvertrag anbieten. Doch der Aufstieg der Capoeira-Lehrer von der Favela ins Beamtenparadies hapert an den Voraussetzungen: Nur wenige Mestres verfügen über acht Jahre Schulbildung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen