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Bei Wallau springt der Funke über

■ Die SG Wallau/Massenheim wurde durch ein 16:18 gegen Leutershausen (Hinspiel 24:17) Handball-Meister

Frankfurt/Main (taz) — Die Hallenuhr stand auf 59,21 Minuten — da sprang der Funke auch auf die Pressetribüne. Achtlos weggeworfene Wunderkerzen hatten mit den umherliegenden Papierbäuschen leichte Arbeit, innerhalb von Sekunden loderten die Flammen einen Meter hoch. Hin- und hergerissen, ob man zuerst ein Interview mit dem Brandstifter oder dem Meistertrainer machen soll, blieb der hartgesottenen Reportergilde für Panik keine Zeit. Unterdessen hatte die Mannschaft der SG Wallau/Massenheim zusammen mit dem Publikum die letzten Sekunden angezählt. Danach verschwand sie in einer brodelnden Masse von Fahnen, Fans und Luftballons. Die SG war Deutscher Handballmeister.

Vor 17 Jahren hatte „König BodoI.“ Ströhmann „seine“ Spielgemeinschaft gegründet, um einmal Deutscher Meister zu werden — nun kostete er den Erfolg in vollen Zügen aus. Und ausgerechnet in dieser Saison hatte es danach überhaupt nicht ausgesehen. Zwar hatten Lästermäuler zu Beginn geunkt, mit dieser „Legionärstruppe“ könne selbst der Masseur Meister werden. Aber eine schier unglaubliche Verletzungsserie schien das Ende aller Hoffnungen. Ausgerechnet für Abwehrchef Henry Kaufmann und Ex-Nationalspieler Martin Schwalb war die Saison frühzeitig beendet.

Als sich dann auch noch Mathias Scholz und Dirk Beuchler verletzten, warteten die Experten und Fans stündlich auf den Zusammenbruch des hessischen Teams. Denn auch das übrige Rumpfteam paßte eher in die Filmsatire M.A.S.H. als in die Bundesliga oder gar den Europapokal. Stephan Schoene spielt seit Wochen mit einem Leistenbruch, Mike Fuhrig bandagiert seine zwei gebrochenen Finger in Toni-Schumacher- Manier zusammen, Torwart-Legende Peter Hofman zog sich vor zwei Wochen eine schwere Beckenprellung zu, und der fliegende Finne Mikael Kaellmann muß von seinen Gegenspielern in Ermangelung anderer Mittel ständig mehrere Ellenbogenchecks ins Gesicht einstecken.

Um überhaupt genügend Feldspieler aufbieten zu können, reaktivierte Ströhmann den Ex-Nationalspieler Jörg Löhr, holte Martin Baumann aus der Regionalliga zurück und verpflichtete zu guter Letzt den Entwicklungshelfer und ehemaligen Essener Wolfgang Kubitzki. Mit diesen erfahrenen Cracks hatte die SG Wallau das große Los gezogen.

Noch lange nach dem Spiel ist Jürgen Hahn, dem sympathischen Trainer der SG Leutershausen, die Enttäuschung über die vertane Titelchance ins Gesicht geschrieben. Der wertlose 18:16-Sieg seiner Mannschaft ist für ihn kein Trost. Er wirkt beinahe abwesend inmitten der 5.000. Immer wieder gehen seine Gedanken zum traumatischen Erlebnis des ersten Finalspiels, in dem seine Mannschaft in eigener Halle regelrecht demontiert wurde. „Wallau unterschätzt? Nein, bestimmt nicht. Aber durch unsere Fans — was ihnen niemand verdenken kann — und durch die Medien sind wir in eine Favoritenrolle geraten, in der wir versagt haben. Wir sind an den Nerven und an einer ausgebufften Profitruppe gescheitert.“

Trotz all der Rückschläge ist dieses Versehrtenteam kein Zufallsmeister. In sämtlichen Bundesligaspielen hat Wallau nur fünfmal verloren. In den Play-off-Spielen und im IHF- Pokal bot sie gar Handball der Extraklasse. Primus inter pares ist der Finne Mikael Kaellmann. Aus einem guten Angriffsspieler ist in vier Jahren der wohl kompletteste Handballspieler der Welt geworden.

Meister-Trainer Velimir Kljaic ist — wie seine Landsleute Ristic und Stepanovic — auch ein Meister der geschliffenen Sprachbilder. Auf die Frage, ob er seine Rolle durch den allgegenwärtigen Bodo Ströhmann etwas unterbewertet sieht, antwortet er: „Bodo ist hier der Chef. Ich bin nur der Jockey. Er sorgt für gute Spieler, und ich sorge dafür, daß sie gut spielen.“ Trotzdem wird er nach der Saison in beiderseitigem Einvernehmen den Verein verlassen. Sollten er und seine Mannschaft jetzt auch noch den IHF-Pokal gegen Minsk gewinnen, dürfte es wohl bald einen neuen Straßennamen in Wallau geben. Matthias Kittmann

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