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Wir steigern das Bruttosozialprodukt

Thailands Wirtschaftselite fördert Kinderprostitution und Menschenhandel  ■ AUS BANGKOK GISELA OSSIG

Aye war ein billiges Souvenir für den Thailandreisenden aus Köln. Ihr Gegenwert: die Kreditfinanzierung für einen Geländewagen. Dafür wurde die 16jährige zwangsweise an einen Deutschen verheiratet.

Er hielt sie in Deutschland wie eine Haussklavin. „Ich war die meiste Zeit allein in einem riesigen Haus. Ich wußte nicht, wo ich etwas einkaufen konnte. Oft hatte ich Hunger.“ Sieben Monate war Aye gefangen. Dann zwang sie ihren Mann, sie sofort nach Thailand zurückzubringen, sonst würde sie sich umbringen.

Vier Jahre liegt Ayes unfreiwilliger Aufenthalt in Deutschland zurück. Die seelischen Verletzungen sind noch nicht überwunden: „Bevor ich den Deutschen heiraten mußte, wußte ich nicht, was Liebe und was Haß ist. Heute will ich nie wieder eine Beziehung mit einem Mann. Ich traue keinem mehr. Ich hasse sie.“

Heute lebt Aye in einem Schul- und Ausbildungszentrum für Mädchen in Mae Sai. Es wurde auf private Initiative eingerichtet, um Mädchen Alternativen zur Prostitution zu eröffnen. Die 54 Schülerinnen stammen alle aus Familien, die bereits eine Tochter „ins Geschäft“ geschickt haben.

Aye lernt hier für ihre eigene Zukunft Thai, Englisch und Schreibmaschine. Gleichzeitig klärt sie mit den anderen sechs MitarbeiterInnen des Zentrums die Mädchen über die Folgen der Prostitution auf. Wie so viele andere war Aye selbst von ihrer eigenen Schwester für die Arbeit auf der Phat Phong, dem Rotlichtviertel Bangkoks, angeworben worden. Hier hatte sie den Reisenden aus Köln getroffen.

Jetzt will sie ihre Mitschülerinnen, aber auch die Mädchen aus den umliegenden Dörfern warnen, denselben Weg zu gehen. „In meinem Dorf gibt es bereits keine Mädchen mehr. Die meisten gingen nach Bangkok, manche aber auch nach Australien, Kanada, Singapur oder wie ich nach Deutschland“, berichtet Aye.

„Ihr Dorf ist kein Einzelfall,“ sagt Schulleiter Sompop. „70 Prozent aller Mädchen verlassen ihre Geburtsorte. Wie viele von ihnen in der Prostitution arbeiten, ist nicht zu ermitteln.“ Zum Abschluß seines Politologiestudiums untersuchte Sompop bereits vor zehn Jahren, warum in vielen Dörfern im thailändischen Grenzgebiet eine weibliche Generation fehlt. „Die Mädchen fühlen sich für das materielle Wohl der Familie verantwortlich. Gleichzeitig gibt es für sie wenig Möglichkeiten, diesem Anspruch gerecht zu werden.“

Allein der Sextourismus bietet gute Verdienstmöglichkeiten. Bis zu einer Million Bath im Jahr schicken Mädchen nach Hause, die in der Sexindustrie in Thailand oder in Übersee arbeiten.

„Recreation“ für müde Vietnam-GIs

Der Aufbau der „Dienstleistungsindustrie“ begann zu Zeiten des Vietnamkrieges. Durch „Rest und Recreation“-Programme sollten sich die amerikanischen GIs von den Strapazen des Mordens erholen und wieder fit werden für den Krieg. Die dafür eingerichteten Vergnügungszentren wurden nach dem Abzug der US-Amerikaner von Reiseunternehmen übernommen.

Ausbau und Förderung des Tourismus ist seit drei Jahrzehnten ein fester Bestandteil des Nationalen Entwicklungsplanes Thailands. 1980 erklärte die damalige Regierung zum „Jahr des thailändischen Tourismus“. Der stellvertretende Ministerpräsident Bonchoo rief die Provinzgouverneure auf, landschaftlich attraktive Orte zu erschließen und für „Unterhaltungsstätten zu sorgen, auch wenn sie mancher von Ihnen möglicherweise abstoßend und peinlich findet, weil sie sexuelle Lustbarkeiten anbieten“. Werbung für den Sextourismus wurde zum Bestandteil der Regierungskampagnen.

Der Erfolg ist in Zahlen nachzulesen. Sechs Millionen Touristen besuchen Thailand jährlich. Seit 1982 ist Sextourismus der Devisenbringer Nummer eins — zumindest nach regierungsamtlicher Lesart. Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Bangkoker Chulalonkorn Universität veröffentlichte 1990 ein gegenläufiges Ergebnis: „Von den 50 Millionen Bath, die das Land durch die Reisebranche einnahm, wurden 28 Millionen Bath wieder ausgegeben, um die für Touristen notwendigen Luxusgüter zu importieren.“

Ministerin Saisuree zählte einst zu den eifrigen Förderinnen der Tourismusbranche. Jüngst bekannte sie auf einer ExpertInnentagung zur Kinderprostitution in Bangkok: „Das Problem der Prostitution und des Handels mit Frauen besteht in Thailand seit Jahrhunderten. Thai-Männer besuchen Bordelle mit derselben alltäglichen Selbstverständlichkeit wie sie eine Tasse Kaffee trinken. Mit dem Boom der Touristenindustrie verschärft sich das Problem.“

Sie hat Recht. Die Nachfrage stieg derart, daß das Angebot nicht mehr mithalten konnte. Thai-Bordelle hatten ihren Bedarf aus bestimmten Gegenden gedeckt, zum Beispiel aus der Umgebung der Stadt Phayao im Norden des Landes. „Arme Familien feiern ein Freudenfest, wenn ihnen ein Mädchen geboren wird“, erzählt Supaporn, Mathematiklehrerin aus Phayao. Inzwischen sind in den Thai-Dörfern die Marktpreise und Gewinnchancen bekannt. Um weiterhin günstig einzukaufen, dehnten die Menschenhändler ihren Einzugsbereich aus.

Bergvölker als Menschenanbieter

Zunächst wurden die Bergvölker Thailands wie beispielsweise die Dörfer der Akha oder der Lahu im Norden und Nordosten des Landes erschlossen. Die offizielle Entwicklungspolitik ebnete durch Straßenbau in entlegenste Gebiete den Zugang. Gleichzeitig trug die erzwungene Integration der Bergvölker in die thailändische Nation dazu bei, die alte Kultur zu zerstören. Ihre alte nomadische Lebensweise, die durch Brandrodung Ackerboden kultivierte, wurde ihnen verboten.

Dem ersten Augenschein nach hat die Regierung allen Grund dazu. Die Bergketten des Landes, benannt nach ihren Bezirkshauptstätten Chiang Mai und Chiang Rai, sind vollständig kahl. 30.000 Quadratkilometer Berglandschaft ohne Bäume. Ganze Hänge sind bereits abgerutscht, die rote Erde liegt nackt da. In der Regenzeit versinken ganze Dörfer im Schlamm. Immer wieder werden Menschen unter den Geröllmassen lebendig begraben.

Gleichzeitig ist es die Regierung, die Land für Touristenzentren aufkauft oder von ausländischen Unternehmen aufkaufen läßt, und die selber die Restbestände des Teakholzes rücksichtslos abholzt: für den Export, für den Bau von mittlerweile zehn Staudämmen, für Hotels und Touristenzentren und neuerdings für den Bau von Golfplätzen. 219 Plätze listet der Golfführer Thailands auf, weitere sind im Bau. „Es lohnt sich“, sagt Chaisong von der thailandischen Tourismusbehörde. Vor allem Japaner fliegen gerne für ein Wochenende zum Golfspielen ein — weitere Annehmlichkeiten inbegriffen.

Die Bergvölker fühlen sich betrogen. „Sie haben nicht genügend Land, um Reis anzubauen, noch haben sie Geld, ihn zu kaufen. Ihre Haupteinkommensquelle, der Opiumverkauf, wurde ihnen auch von der Regierung verboten“, sagt der Sozialarbeiter und Journalist Chaye, selbst ein Akha. „Ihre alten Werte, ihre alte soziale Kultur ist zerstört. Gleichzeitig fehlen ihnen die materiellen Möglichkeiten, die neuen von der Konsumgesellschaft vorgegebenen Werte in Form von Lusxusgütern zu erwerben.“ — Auf diesem Hintergrund sieht Chaye den Verkauf der eigenen Kinder. Durch Dorfbesuche und Radiosendungen versucht er über den Kinderhandel aufzuklären. „Im Gegensatz zur thailändischen Kultur gab es unter den Bergvölkern keine Prostitution. Die meisten Eltern wissen nicht, womit ihre Kinder das Geld verdienen müssen.“

Chaye arbeitet im „Zentrum für den Schutz der Kinderrechte“ in Chiang Mai. Die Organisation unterhält landesweit Einrichtungen. Um Mädchen von vornherein von der Abwanderung in die Prostitution abzuhalten, richtet sie Ausbildungszentren ein. Gleichzeitig übt das Kinderschutzzentrum immer wieder Druck auf örtliche Polizeibehörden aus, Razzien in Bordellen durchzuführen, und versucht anschließend die befreiten Kinder zu therapieren und zu rehabilitieren.

„In der letzten Zeit wurden immer öfter Kinder aus Birma und der südlichen Yunnan-Provinz Chinas befreit“, sagt der Direktor des Kinderschutzzentrums in Bangkok, Sanphrasit. „Uns sind Fälle von Kindesverschiebungen aus Laos, Kambodscha und Vietnam bekannt. Die Kinder sind völlig wehrlos, weil sie die Sprache nicht verstehen. Viele von ihnen wurden regelrecht gekidnappt.“

Lebende Importe aus Birma und China

Die Mädchen aus Birma und China überschreiten bei Mae Sai den Grenzfluß Nam Tha Lang nach Thailand. Sie werden gezwungen, die Brücke wie die tausend anderen Tagestouristen und Grenzgänger einzeln zu Fuß zu überqueren. An der Grenze zwischen zwei Militärdiktaturen sind die Schlagbäume — zumindest tagsüber — offen: keiner fragt hier nach Visum oder Paß. — Die Atmosphäre in Mae Sai steht in schockierendem Gegensatz zur Grausamkeit des Menschenhandels, der hier stattfindet: Die Buntheit des Treibens in Mae Sai vermittelt Karnevalsstimmung. Fahrende Händlerinnen bieten Erdbeeren, Ananas, selbstgekochte Leckereien an. Birmesen halten Schnitzereien und Zigaretten feil. Kinder bieten sich in phantasievollen — keineswegs traditionellen — Kostümen für wenige Bath als farbenfrohe Fotomodelle an. Alles steht zum Verkauf — auch Menschen.

Die Einwohner in Mae Sai wissen davon. In ihrer Stadt gibt es 50 Sammelzentren, von denen aus die lebende Importware auf die 60.000 Bars und Bordelle Thailands verteilt wird. Die Orte sind bekannt und werden gedeckt. Von den einen, weil sie selbst am Menschenhandel mitverdienen — von den anderen, weil sie Angst haben vor skrupellosen Händlern.

Nur wenige sprechen offen wie der Chef der Sondereinheit der thailändischen Polizei zur Bekämpfung der Kinderprostitution, Bancha: „Unsere Erfolge sind bisher so gering, weil die Korruption bis in hohe politische Ränge hinein jegliche Aufklärung erschwert.“

Bestätigt wird der Polizeichef durch Sanphrasit, den Direktor des Kinderschutzzentrums in Bangkok: „In diesem Geschäft geht es um sehr viel Geld. Zum Mittelsmann kann jeder werden, jeder Taxifahrer, der Touristen für einen Aufschlag an die gewünschten Orte bringt, jeder, der mal rasch durch eine Vermittlung Geld machen will. Aber die eigentlichen Menschenhändler stellen drei Gruppen: die politische Spitze, die Großindustriellen und lokale Geschäftsleute.“

Er begründet seine Behauptung: In den thailändischen Machtstrukturen ist es nur der politischen und industriellen Spitze möglich, von den Banken Kredite für den Menschenhandel und den Betrieb von Bordellen zu bekommen und die Gewinnsummen wieder waschen zu können — steuerfrei natürlich. Nach seinen Angaben bleiben die Gewinne vom innerthailändischen Handel im Lande. Nur für die Exporte von Mädchen nach Japan oder Europa würden die Geschäfte mit Partnern vor Ort abgeschlossen. Etliche sitzen auch in Frankfurt, was Namensnennungen von thailändischen Informanten in deutschen Zeitungen nicht ungefährlich macht. Darin liegt die eigentliche Schwierigkeit, über Kinderprostitution zu berichten.

Die Recherche ist einfach, denn Jungen wie Mädchen prostituieren sich völlig öffentlich. Um von ihnen mehr zu erfahren, kauften sich Journalisten Kinder oft vorgeblich als Kunden. Wurde ihre eigentliche Absicht öffentlich bekannt, verschwanden die Kinder. Viele mutmaßen, daß sie umgebracht wurden. Doch niemand traut sich, dies laut vor Journalisten auszusprechen. Weil an der Prostitutionsversklavung der Kinder die gesellschaftliche Oberschicht verdient, kann dies in aller Öffentlichkeit geschehen, während alle, die etwas dagegen tun, sich und ihre Arbeit in ständiger Gefahr sehen.

Offen wird nur über die Korruption der Polizei geredet. Die Barbesitzer in Pattaya, dem Badeort für alleinreisende Europäer, klagen über die hohen Schmiergelder, die sie monatlich fürs Weggucken zahlen müssen. „Manche Polizisten bestechen sogar ihre eigene Personalverwaltung, um nach Pattaya versetzt zu werden. An kaum einem anderen Ort werden so hohe Schmiergelder gezahlt“, trumpft ein schottischer Barbesitzer auf.

Weniger gerne reden die oft ausländischen Barbesitzer Pattayas über das, was ihnen Sorge bereitet: Die weltweite Rezession führe zu einem Einbruch im Tourismus, dazu komme die Angst vor Aids.

Mit zwölf Jahren HIV-positiv

Die Menschenhändler gehen bisher äußerst skrupellos mit der tödlichen Krankheit um. Buka kam mit zwölf Jahren aus dem Bordell zurück in ihr Dorf: HIV-positiv. Als ihr Vater begriff, daß seine Tochter sterben würde, zog er es vor, sie ein zweites Mal in die Prostitution zu verkaufen, erzählt ein Sozialarbeiter, der anonym bleiben möchte. Wenn sich ausländische Touristen vor Aids schützen wollen, indem sie junge Mädchen — ohne Kondom, versteht sich — mißbrauchen, unterliegen sie einem tödlichen Trugschluß.

60 Prozent aller Prostituierten Thailands sind HIV-positiv, schätzt Pfarrerin Lauran Dale Bethell, Direktorin eines Auffang- und Ausbildungszentrums für ehemalige Prostituierte der Bergvölker in Chiang Mai. Nach offiziellen Angaben starben bislang 108 Menschen in Thailand an Aids. Diese Zahl hält die Pfarrerin für einen schlechten Scherz. Allein im Krankenhaus von Chiang Mai starben 105 Menschen an der Viruskrankheit.

Ein Umdenken versuchte der scheidende Gesundheitsminister Meechai zu bewirken. Er war so umfassend für den Gebrauch von Kondomen, daß die Gummis schließlich in „Meechais“ umbenannt wurden. Mancher Bordellbesitzer verpflichtete seine Kunden tatsächlich zur Verwendung des Gummis. Geschwiegen wird jedoch weiter über die Unsitte vieler europäischer Touristen, die im Urlaub tun wollen, was ihnen zu Hause keine Prostituierte mehr zugesteht.

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