: Noch absurder als die Mauer
■ »Geisterbahnhöfe« — Ein Bilderbuch der ehemals geteilten Unterwelt
Jeder, der vor 1989 eine Wohnung in West-Berlin besaß, konnte sich vor Besuch aus Wessiland kaum retten. Auf der Suche nach einer Matratze klopften ständig Freunde und Bekannte an die Tür, die als Dankeschön nichts lieber taten, als die Adresse an ihre eigenen Freunde und Bekannten weiterzureichen.
So nervig diese Gäste auch waren, so stolz führte man sie doch in der innig geliebten Mauerstadt herum. Zum Besuchsprogramm gehörte natürlich die Geisterfahrt mit der U- Bahn-Linie 6. Eiskalt lief es den Wessis über den Rücken, wenn das BVG-Männlein an der Kochstraße den »letzten Bahnhof in Berlin-West« ausrief. Während Berliner Fahrgäste weiter in ihre 'B.Z.‘ glotzten, preßten Touris sich an den Scheiben die Nasen platt: Da tauchten an der verrotteten und düsteren Station Stadtmitte, die der Zug langsam durchfuhr, waschechte DDR-Grenzposten mit Maschinengewehren auf.
Am U-Bahnhof »Französische Straße« das gleiche Bild, doch welch ein Schock, als der Zug an der Friedrichstraße plötzlich hält. Mitten im Osten steigen Leute ein und aus, ohne erschossen zu werden! Vergeblich warten die Berlin-Touristen auf die Paßkontrolle — die U-Bahn setzt sich nach einer Minute wieder in Bewegung, passiert drei weitere Geisterbahnhöfe, um in der Reinickendorfer Straße im Wedding erneut einen »letzten Bahnhof in Berlin-West« zu erblicken.
Um die Wessis, zu denen man als Westberliner mittlerweile selber zählt, heute noch zu schocken, muß man sie mindestens in die tristen Wohnghettos in Hohenschönhausen oder Hellersdorf führen. Mit dem Fall der Mauer wurden die Geisterbahnhöfe nach und nach instand gesetzt und wieder ihrer alten Funktion zugeführt. Die kurze Übergangszeit haben die beiden Ostberliner Thomas Wenzel und Michael Richter jedoch genutzt, um die einmalige Situation in Wort und Bild festzuhalten. Der Feuilletonist und Erzähler Heinz Knobloch lieh dem Projekt seinen guten Namen und rundete die Interviews und Fotos mit eigenen Erkundungen und Erinnerungen ab.
Herausgekommen ist dabei ein aufregender Bild- und Textband, im vergangenen Monat im Christoph- Links-Verlag erschienen. Die Fotos sind zwar nicht immer scharf, die Interviews manchmal etwas holprig, aber das läßt sich mit der einmaligen historischen Situation entschuldigen. Niemand sonst hat schließlich über die Geisterbahnhöfe geforscht, nur die taz hatte vor zehn Jahren ein Interview mit einem Grenzpolizisten gedruckt, der in einem der gesperrten Bahnhöfe Wache schob.
»Die Westbahnen fuhren von Süd nach Nord durch Ost, oder umgekehrt. Eine Bahn, die nicht anhält. Aber stillgelegt konnte sie auch nicht werden. Das ist das Kuriose daran, das Entsetzliche und Komische«, schreibt Heinz Knobloch im Eingangskapitel. Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 wurden die Linien 6 und 8 der U-Bahn sowie die Nord- Süd-Strecke der S-Bahn gesperrt. Nach Verhandlungen mit dem Westberliner Senat ratterten die Züge dann zwar weiterhin durch den Ostteil der Stadt, von den Ostberlinern konnten sie aber nicht mehr genutzt werden. Die Eingänge wurden entweder abgetragen oder zugemauert. An einigen früheren Bahnhöfen wurden alle Spuren verwischt.
Auf ihren Streifzügen entdeckten Thomas Wenzel und Michael Richter etliche Dokumente aus den fünfziger und beginnenden sechziger Jahren, darunter Speisekarten vom damaligen Mitropa-Imbiß im Bahnhof Potsdamer Platz. Ihr besonderes Interesse galt jedoch dem Alltag der Grenzpolizisten, die Tag für Tag in den dunklen Bahnhöfen ihren Dienst verrichten mußten — zwischen zugemauerten Treppen, abgeschirmten Bahnsteigen, Sehschlitzen und Schießscharten. Jeden Mittwoch verlangte ihr Dienstplan »Appell, Stiefelputz, Rasur«. Nach einer »Postenanweisung« war es den Soldaten verboten, sich nach Zeitungen, Kaffee oder Tabak zu bücken, die gutherzige WestberlinerInnen dann und wann aus den Zügen warfen. »Auf Weisung des Vorgesetzten« durfte jedoch im Stützpunkt vorhandene »Fach- und Politliteratur gelesen werden«.
Heinz Knoblochs Erkundungen betreffen mehr den oberirdischen Teil der Stadt. Gemächlich, aber stets mit scharfer Beobachtung, erzählt er die Geschichte des Potsdamer Platzes, beschreibt, wie es damals aussah am Anhalter Bahnhof und in der Friedrichstraße. Geisterbahnhöfe ist ein wunderbares Geschichtsbuch, das die Zeit des Faschismus und des Kalten Kriegs am Beispiel des Treibens auf den U- Bahnhöfen beschreibt. Kleine Anekdoten läßt Knobloch nicht aus. Einen Absatz widmet er allein dem Stadion der Weltjugend, das bis 1973 Walter- Ulbricht-Stadion hieß. Auch der gleichnamige U-Bahnhof wurde damals umbenannt — zwölf Jahre nach seiner Stillegung.
»Die Überwachung war geradezu perfekt«, berichtet ein ehemaliger »Operativer Offizier« für Transitstrecken in einem Interview von den Sicherungsmaßnahmen. Nur ein einziges Mal soll ein Fluchtversuch über die Geisterbahnhöfe geglückt sein. Schriftsteller Knobloch durfte indes schon zu DDR-Zeiten in den Westen reisen und brauchte von den Geisterbahnen nicht nur die zugemauerten Eingänge zu sehen: »Ich saß in dieser U-Bahn und dachte, jeder müßte mir ansehen, woher ich kam. Niemand kümmerte sich. Die Bahn verlangsamte, durchfuhr das Oranienburger Tor. Das gab es noch! Die Leute lasen Zeitung, jeder seine. 'Tagesspiegel‘, 'Bild‘ und 'B.Z.‘ und andere. Ich sah es mit Staunen, blickte auf die Zeitungstitel, nicht auf die fetten Schlagzeilen. Es war der milde Kulturschock.«
Der Schock hielt nach Maueröffnung an. Anstatt von der Straßenbahn 46 am Nordbahnhof in die U- Bahn umzusteigen, fuhr Knobloch noch Monate nach der Wiedereröffnung einen Umweg. Die Mauer in seinem Kopf hielt länger als die aus Beton.
Knoblochs Buch hält die Erinnerung an die Geisterbahnhöfe wach, die mehr noch als die Mauer die Absurdität, aber auch das Faszinierende der geteilten Stadt ausdrückten. Knobloch erinnert an die Intershops auf dem Bahnhof Friedrichstraße, die dem Westberliner Zoll stets ein Dorn im Auge waren, anderen aber als billige Tabakläden dienten. Nur die Geschichte des besetzten Kubat- Dreiecks ließ Knobloch aus. Westberliner Alternative und Autonome waren damals vor der Polizei über die Mauer geflüchtet, wurden von den Grenzern freundlich mit Karo- Zigaretten empfangen und über Friedrichstraße zurückgeschickt. An der Kochstraße wurden sie von der Westpolizei empfangen.
Allerdings brachte die Arbeit an den Geisterbahnhöfen ein anderes Abenteuer der Westalternativen an den Tag. Als Verlagschef Christoph Links versuchte, das Nachdruckrecht für das erwähnte taz-Interview mit dem DDR-Grenzer zu bekommen, bekam er vom damaligen Autor eine Absage: Das Interview sei ein Fake gewesen... Micha Schulze
Heinz Knobloch: Geisterbahnhöfe , Christoph Links Verlag, Berlin 1992, 42 DM
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