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Die Märchen vom braven Volk und den bösen Politikern

Der 'Spiegel‘ outet Oskar Lafontaine — und dabei verrutschen ihm die Proportionen ein bißchen vor Schadenfreude  ■ Von Bernd Ulrich

Was machen wir eigentlich, wenn wir alle Politiker erwischt, entlarvt und enttarnt haben? Wählen wir uns dann einfach eine neue politische Klasse? Kommen die Kinder an die Macht, oder übernimmt der 'Spiegel‘ selber die Regierungsgeschäfte?

Die Hamburger Nachrichtenschmiede stellte in ihrer jüngsten Ausgabe Oskar Lafontaine an den postmodernen Pranger auf der Titelseite. Im Gewande eines absolutistischen Sonnenkönigs, das fette Händchen um ein Bündel deutscher Tausendmarkscheine gekrallt, grinst er uns, die lesenden Untertanen, frech an.

Und was hat er diesmal verbrochen? Er hat eine unmäßige Diäten- und Rentenregelung erlassen. Nicht heute, aber 1972. Immerhin. Und nicht direkt er, sondern die damalige Saarländische CDU-Regierung. Jedenfalls war er irgendwie dabei vor zwanzig Jahren.

Nun freuen wir mittleren Einkömmlinge uns immer, inbrünstig und zu Recht, wenn die Politiker für ihre Selbstbedienungsaktionen eins draufkriegen.

Dennoch sind dem 'Spiegel‘ diesmal so sehr die Proportionen verrutscht, daß nach der obligatorischen Verurteilung Lafontaines und dem gegenwärtig ununterbrochenen Lamento über die Politiker noch ein paar Merkwürdigkeiten bleiben.

Wir bewegen uns in Deutschland auf einen merkwürdigen moralischen Purismus gegenüber Politikern zu, der sich im Westteil der Republik vor allem auf Geld und Karriere bezieht. Was den US-Amerikanern der Sex, ist uns das Geld.

Die Parteien- und Politikerverdrossenheit ist derart breit, daß man mit dem kleinsten Indiz die größten Politiker zu Fall bringen kann.

Dabei fangen wir langsam an, daß öffentliche Märchen vom braven Volk und den bösen Politikern selbst zu glauben.

In der letzten Monitor-Sendung sprach ein Journalist im Zusammenhang mit der sozialen Frage, ohne mit der Wimper zu zucken, von den Nöten der Mehrheit der Deutschen. Selten so geweint.

Dabei liegt doch auf der Hand: Die Politiker sahnen noch frecher als andere ab, weil sie mehr Gelegenheiten haben. Die muß man ihnen nehmen. Darüber hinaus ist die Parteienverdrossenheit der Deutschen auch Selbstverdrossenheit.

Als 1989 unsere deutsche Welt umstürzte, fielen die Westdeutschen in eine Art Besitzstandsstarre. Daß bei den daraus entspringenden Dilemmata die Führungsschicht ins Schwimmen gerät, ist kein Wunder. Ökologische Revolution, aber keiner darf's merken. Übernahme der DDR, aber viel soll's nicht kosten.

Ohne ein bißchen weniger populistische Selbstgerechtigkeit ist das Wohl und Wehe von Politikern nur noch von Zufallsfunden oder dem publizistischen Kalkül großer Medienorgane abhängig.

Was wollte etwa der 'Spiegel‘, als er uns am Montag mitteilte, er sei nun gegen Lafontaine? Soll ein Platz in der Troika der SPD freigemacht werden — für einen frischeren Kandidaten mit genausoviel Machtinstinkt wie der Saarländer, mit dem Willen zur Großen Koalition, aber weitaus teureren Schuhen? Nächsten Montag werden wir es wissen.

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