DEBATTE: Milosević, der Aggressor
■ Die UNO muß Serbien militärische Zwangsmaßnahmen androhen
Mit der Rückrufung ihrer Botschafter aus Belgrad und dem befristeten Ausschluß des „neuen“ Jugoslawien aus der KSZE haben EG und KSZE erstmals eindeutig mit konkreten Maßnahmen auf den serbischen Aggressionskrieg geantwortet.
Dies geschieht, nachdem EG- Beobachter wie UNO-„Blauhelme“ längst zu Geiseln des Krieges geworden sind — statt als aktive Friedenswahrer zwischen den Fronten zu fungieren. Die bisherigen Friedensappelle der EG-Außenminister oder des UNO-Generalsekretärs verhallten ohne irgendein Echo. Die Macht- und Hilflosigkeit zuerst der EG, dann der UNO ist offenkundig.
Selbst in den UNO-Schutzgebieten in Kroatien sind die „Blauhelme“ gegen den serbischen Terror, gegen Erschießungen, Deportationen und Plünderungen weitgehend machtlos. Aus Gebieten, die längst von „Blauhelmen“ kontrolliert werden sollten, beschießen Armee und Cetniks ständig die kroatischen Städte Osijek, Vinkovci, Zadar und Gospic. Inzwischen sieht UNO-Generalsekretär Butros Ghali auch die Kroatien-Mission in Gefahr.
In Kroatien und Bosnien büßt die UNO Tag für Tag an Glaubwürdigkeit ein. Da klingt das hoffnungsvolle Wort der amerikanischen Politologen Bruce Russett und Jame S. Sutterlin nach dem Ende des Golfkrieges wie aus ferner Zeit. Die „Glaubwürdigkeit der UNO, Aggression zurückzuweisen und internationalen Frieden und Sicherheit wiederherzustellen, wie in der UNO-Charta vorgesehen“, sei durch die irakische Invasion Kuwaits schwer geprüft worden — mit dem Erfolg, daß der Sicherheitsrat seine Fähigkeit gezeigt habe, „kollektive Maßnahmen für die Aufrechterhaltung des Friedens in einer neuen Weltordnung zu ergreifen“.
Trotz des offenkundigen Aggressionskrieges der Armee und des durchsichtigen Wechselspiels von militärischer Eroberung und diplomatischem Parkettkratzen warnen westliche Politiker vor friedensherstellenden Maßnahmen (nach Abschnitt VII der UNO-Charta) wie im Falle Iraks. Sie werden dagegen nicht müde, an den „guten Willen“ der Aggressoren zu appellieren und über Autonomie- und Kantonisierungsfragen zu verhandeln. Währenddessen schießt sich der Krieg längst seine eigene Territoriallösungen frei.
Stimmen aus der Region selbst sprachen sich schon frühzeitig für die Androhung militärischer Sanktionen als dem einzigen wirkungsvollen Mittel aus und warnten von Anbeginn vor einer Ausbreitung des Brandherdes auf Bosnien und die gesamte Balkanregion. Der bosnische Präsident wandte sich am Wochenende mit der Bitte um militärischen Beistand an die UNO. Doch Europa und die Welt verschließen sich Lösungswegen, wie sie der Erzbischof von Bosnien-Herzegowina, Vinko Puljic, vorschlug: „Unsere Gläubigen können sich nicht wehren gegen eine Armee, die 45 Jahre Zeit hatte, sich aufzubauen. Die einzige Lösung wäre, daß jemand, der stärker ist als die Armee, verhindert, daß die Armee noch mehr Menschen tötet.“
Jemand, der stärker ist? Gegen ein militärisches Eingreifen wird im wesentlichen moralisch-politisch wie real-politisch argumentiert. Das Europa von heute wolle nicht, wie Jahrhunderte geschehen, Krieg als Mittel der Politik einsetzen, begründete etwa der italienische Außenminister De Michelis die Politik der EG. Doch eben dies geschieht durch Serbien und die Armee. Bedeutete der UNO- Einsatz gegen Irak nicht gerade das Gegenteil? Geschah er nicht zur Eindämmung irakischer Eroberungspolitik? Wird mit einem internationalen militärischen Engagement wirklich noch mehr Leid verursacht? Oder gilt nicht umgekehrt: Da die internationale Gemeinschaft vor Zwangsmaßnahmen, notfalls vor dem militärischen Einsatz zurückschreckt, hört das Morden nicht auf, wachsen die Flüchtlingsströme immer weiter (jetzt 1,2 Millionen), werden Gebiete „kroatenrein“ und „moslemrein“ geschossen und bedeutende europäische Kulturstädte zerstört?
Der zweite Einwand ist macht- und geopolitischer Art. Die Balkanregion sei nicht der Nahe Osten. Hier befinden sich nicht zwei Drittel der Erdölreserven der Welt. In der Nachkriegsära war die politische und geostrategische Bedeutung Jugoslawiens für die USA eine direkte Funktion des kalten Krieges: Tito hatte mit Stalin gebrochen und verfolgte nun seine eigenständige Linie einer aktiven Blockfreiheit. Nach Ende des kalten Krieges erweist sich Südosteuropa aber nun aufgrund seiner ethnischen Vielfalt als empfindsame und labile Region. Sie berührt die Sicherheitsinteressen nicht nur der Nachbarländer, sondern Europas und der internationalen Ordnung.
Ein Krieg in Etappen
Mit der Ausweitung des Krieges im früheren Jugoslawien treten historische, vergessen geglaubte Konstellationen und Einflußsphären wieder zu Tage, die bereits jetzt über Europa hinausgreifen. Die Türkei meldet sich als Schutzmacht der bosnischen Muslime. Sie fordert vom UNO- Sicherheitsrat den Schutz der territorialen Integrität Bosniens und erinnert an ihre „historischen, kulturellen und moralischen Bindungen“ zu Bosnien.
Das Übergreifen des Krieges auf das mehrheitlich von muslimischen Albanern bewohnte Kosovo steht bevor. In Serbien und im Kosovo selbst wird die Pogrom- und Vertreibungsstimmung geschürt, die jederzeit in offenen Krieg umschlagen kann. Bereits droht die jugoslawische Agentur 'Tanjug‘ angesichts der für den 24. Mai von den Kosovo-Albanern geplanten ersten freien Wahlen: „Diese Aktion schließt die Möglichkeit nicht aus, auf dem Boden des früheren Jugoslawien eine neue Kriegszone zu eröffnen.“ Ein Krieg im Kosovo würde aber Albanien direkt betreffen und den Konflikt über die Grenzen des alten Jugoslawien hinaustragen. Das Versäumnis, ihn nicht frühzeitig mit notfalls allen Mitteln der internationalen Gemeinschaft begrenzt zu haben, läßt diesen „Krieg in Etappen“ (Paul Lendvai) immer neue Grenzen überschreiten.
Die bisherige Zurückhaltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Gewalt in Kroatien und Bosnien zeigt dreifache Wirkung: Sie belohnt die, die auf Gewalt setzen, sie schafft Verbitterung und Enttäuschung bei denen, die sich von Europa Beistand erhofft hatten, und sie trägt durch das daraus folgende „Hilf dir selbst“ zu einer neuen Drehung in der Spirale der Gewalt bei und gibt extremistischen und terroristischen Milizen aller Volksgruppen Auftrieb. Der Machtverlust besonders des bosnischen Präsidenten, der Verständigungslösungen sucht, ist auch das Resultat der Folgenlosigkeit der internationalen Politik.
Die systematische, Tag und Nacht andauernde Bombardierung und Zerstörung Sarajevos durch Luftwaffe und Cetniks, die wochenlange Einkesselung und Beschießung moslemischer Dörfer. Deportationen ganzer Dörfer in verminte Gebiete, die systematische Verletzung des Völkerrechts, die gezielte Zerstörung von Moscheen und die Überfälle auf UNHCR- und auf IKRK- Lastwagen mit Medikamenten, die für Verwundete in Sarajevo bestimmt sind. All dies sind terroristische Akte. Es sind Kriegsverbrechen und Ausrottungsaktionen. Sie müssen gestoppt werden, notfalls auch mit friedensherstellenden Zwangsmaßnahmen. Die humanitären Missionen der UNO und des IKRK müssen militärisch geschützt werden und die gefährdete UNO-Mission in Kroatien muß durchgesetzt werden. Milosevićs Regime ist nicht mit Saddams geschlossen totalitärem Staat gleichzusetzen. Es besteht Grund zu der Annahme, daß die Androhung zuerst wirtschaftlicher, dann auch militärischer Sanktionsmaßnahmen das Regime vor einer internationalen Konfrontation zurückschrecken ließe.
Kürzlich sagte van den Broek, die EG sei an guten Beziehungen zu Serbien (das heißt: zu diesem Regime) interessiert. Und nach jedem Gespräch mit Milosević schöpft Lord Carrington neue Hoffnung. Die Beflissenheit des Niederländers und der Optimismus des Briten waren die bisher vorherrschenden Signale an Serbien. Sie wurden dort auch verstanden. Sie erinnern fatal an die Beflissenheit Chamberlains 1938. Doch immer noch gilt: Der beschwichtigte und belohnte Aggressor ist der gewachsene Aggressor. Johannes Vollmer
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